OCR
heißt es etwa in seinem Essay über Thomas Manns „Rede und Antwort“ (1921) kritisch über Thomas Mann, aber eben auch erhellend über Zweig selbst: Das Objekt dient immer dem Subjekt nur als Vorwand, als Deckfarbe: irgendwo wird es unweigerlich transparent. | ... ] Mit jedem Strich an einem Porträt ergänzt er das seine: wo er zu reflektieren scheint, werden seine Gegenstände Reflexe; sie glühen nicht von innen, sondern werden Widerschein. [...] Dieses Autoplastische, dies unbeabsichtigt Selbstbildnerische, dies — um Stendhals Wort zu gebrauchen — „Egotistische“ der Darstellung steigert [...] den literarischen Reiz.” Kritik Man kann iiber Zweigs extensive Biographie-Manie viel Kritisches und sehr Bedenkenswertes, aber auch Untergriffiges, herbeizitieren, etwa dass er nur einer der vielen war, die den „biographical appetite“ des 19. Jahrhunderts weiterhin bedienten - jetzt freilich mit ein bisschen mehr Archäologie an Psychopathologischem und Enttabusierendem angereichert. ”' Man kann ihn als einen österreichischen bildungsbürgerlichen Juden fixieren, der sich vor der zunehmend prekärer werdenden Realität, gegen den „Schimpf der Demütigung“ dadurch schützte, dass er sich mit „Gleichberühmten“ real und symbolisch umgab, wie Hannah Arendt meinte. Denn er habe sich einer Welt des „unendlichen Interesses an den toten Genien der Menschheit“ zugehörig gefühlt, „in deren privates Leben einzudringen, deren persönlichste Hinterlassenschaft wie Reliquien zu sammeln die beglückendste Tätigkeit eines untätigen Lebens“? gewesen sei. Man kann es sich auch leicht machen und Zweigs biographische Arbeiten entweder als sekundäre Brotarbeiten des sogenannten Erwerbs-Zweigs abtun, da man ihn möglicherweise lieber als Pazifisten und Europäer oder als volkshochschulmäßigen „Welt von Gestern“-Verfasser haben will. Tatsächlich aber machen seine unterschiedlich angelegten biographischen Erkundungen einen zentralen Bestandsteil seines Werkes aus. Man kann ihn auch als bourgeoisen und unoriginellen Anbieter eines nach 1918 in spätkapitalistischen Umbruchszeiten populären, in den letzten Zuckungen liegenden Massenerzeugnisses ironisieren, das sich auf dem Markt ,,eingenistet“” hat. Zweigs einschlägige Arbeiten seien bewusstseinslose Folge des Endes des in seinen Grundfesten erschütterten Romans, dessen „selbstherrliches Subjekt [...] inmitten der erweichten unfaßlichen Welt“ ein Auslaufmodell geworden sei. Zweigs Produkte gehören einem „neubürgerlichen“ Surrogatgenre an. Schließlich kann man Zweig (als Hauptzeugen) und gemeinsam mit ihm ca. 15 weitere Autoren seiner Generation und etwa 40 sogenannten Popular-Biographien seit 1920 einer ideologiekritischen und angeblich textkritischen Abrechnung unterziehen, wie dies Leo Lowenthal in seinem 1938 entstandenen Aufsatz „Die biographische Mode“ getan hat. Zweigs Biographien, darunter auch einige Texte aus den „Baumeistern“ (z.B. Balzac, Hölderlin, Nietzsche, Tolstoi) werden besonders wegen des in ihnen vermittelten Geschichtsbildes geradezu vernichtet: „Der Hymnus des Individuellen, der jetzt zu belegen ist, gibt den Spiegel bloßen Scheins, reflektiert die krampfhafte Bemühung, in der Wunschphantasie eine Autonomie und Beständigkeit — die Persönlichkeit bestätigt zu wissen, die jenes Allgemeine beständig zertritt. Wie scheinhaft freilich dieses Reich der Freiheit ist, verrät sich rasch. 38 _ ZWISCHENWELT Das Zeichen der Superlative, das es als seine Fahne hat, wirkt lächerlich.“‘ Wie auch immer. Man hat mit einem fast monomanisch biographische Produkte herstellenden Schriftsteller zu tun, dessen Arbeiten, wie sie in seinen „Baumeistern“ vorliegen, Respekt abnötigen und Erkenntnisgewinn abwerfen - ist das nicht genug? „Ich halte den Schwankungen und der Aufregung in der Welt einen breiten Arbeitsplan entgegen und bin glücklich, darin einen Halt zu finden.“ (Zweig an R. Rolland 7.4.1923. Briefe III, S. 434) Vortrag in London am 16. Juni 2017 im Rahmen der „International Conference on Biography in Britain and Germany. Comparing Theories and Practices“ (Queen Mary University of London/QMUL, Centre of Anglo-German Cultural Relations; Internationales Kolleg Morphomata, Universität Köln (Günter Blamberger); Ludwig Boltzmann Institut fiir Geschichte und Theorie der Biographie/Wien, Wilhelm Hemecker; The Austrian Cultural Forum London; Goethe Institut London. Host: University of Notre Dame — Te London Global Gateway. 14-16 June 2017) Anmerkungen Im Folgenden wird aus folgender Textausgabe zitiert: Stefan Zweig: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Hg. von Knut Beck (Drei Meister. Balzac. Dickens. Dostojewski 1981 [Erstausgabe 1919, Romain Rolland gewidmet] — Der Kampf mit dem Dämon. Hölderlin. Kleist. Nietzsche 1981 [Erstausgabe 1925, Sigmund Freud gewidmet] — Drei Dichter ihres Lebens. Casanova. Stendhal. Tolstoi 1981 [Erstausgabe 1928, Maxim Gorki gewidmet] — Die Heilung durch den Geist. Mesmer. Mary Baker-Eddy. Freud. 1982 [Erstausgabe 1931, Albert Einstein gewidmet]. FrankfurtIM.: S. Fischer. 1 Stefan Zweig: Einleitung. In: Ders.: Die Heilung durch den Geist. Mesmer. Mary Baker-Eddy. Freud [1931], 25. 2 Romain Rolland verfasste seit etwa 1900 mehrere Biografien, zum Beispiel über Beethoven (1903), Michelangelo (1906), Händel (1910), Tolstoi (1911) und Bizet (Fragment). 3 Stefan Zweig. [Vorwort]. In: Ders.: Baumeister der Welt. Wien, Leipzig, Zürich: Herbert Reichner 1936. 4 Ebd. 5 Stefan Zweig: Vorwort. In: Ders.: Drei Meister [1919/1920], 10. Im Vorwort zu seiner zweiten Trilogie „Der Kampf mit dem Dämon“ (1925) heißt es: „Psychologe aus Leidenschaft, Gestalter aus gestaltendem Willen, treibe ich meine Bildnerkunst nur, wohin sie mich treibt, nur den Gestalten entgegen, denen ich mich zutiefst verbunden fühle.“ (S. 10) 6 Stefan Zweig: Die Geschichte als Dichterin. In: Ders.: Die schlaflose Welt. Aufsätze und Vorträge aus den Jahren 1909-1941, Frankfurt/M.: S. Fischer 1990 [1983], 249-270 (bestimmt für den XVII. Internationalen PEN-Kongreß in Stockholm im September 1939, 1943 erstmals publiziert), hier 263. 7 Ebd., 264. Vgl. dazu. Hayden White: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen: Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Einführung von Reinhart Koselleck. Aus d. Amerikanischen von Brigitte Brinkmann-Siepmann u. Thomas Siepmann. Stuttgart: Klett-Cotta 1986. 8 Ebd., 265. 9 Ebd., 262f. 10 Stefan Zweig: Vorwort. In: Ders.: Der Kampf mit dem Dämon, 9. 11 Stefan Zweig. [Vorwort]. In: Ders.: Baumeister der Welt. Wien, Leipzig, Zürich: Herbert Reichner 1936. 12 Stefan Zweig: Die Philosophie des Hippolyte Taine Wien, Dissertation 1904. — Natascha Weschenbach: Stefan Zweig und Hippolyte Taine. Stefan Zweigs Dissertation über „Die Philosophie des Hippolyte Taine“