OCR
GEDENK-PROBLEME Elisabeth Malleier Im Juni 2018 fand in Görlitz, Martinshof (Rothenburg) die Frühjahrstagung des Arbeitskreises zur Erforschung der NS-“Euthanasie“ und Zwangssterilisation (AK) mit dem Schwerpunkt Schlesien statt. Bereits seit 35 Jahren besteht der Arbeitskreis als „loser Haufen“, wie es beim Eröffnungsvortrag der Tagung im Schlesischen Museum in Görlitz hieß. Dieser „Haufen“ ist kein Verein, er hat auch keinen Vorstand. Er besteht aus unterschiedlichsten Menschen und arbeitet kontinuierlich seit vielen Jahren. Zweimal jährlich finden an verschiedenen Orten Tagungen statt, und der AK gibt auch Publikationen heraus.! Initiiert wurde der Arbeitskreis ursprünglich von engagierten GesundheitsarbeiterInnen, die sich mit der Geschichte ihrer Arbeitsplätze befassten und über die Nähe bzw. Involvierung zu den NS-Verbrechen und die fehlende Aufarbeitung erschrocken waren.” Mittlerweile arbeiten im AK viele WissenschafterInnen unterschiedlicher Fachrichtungen (MedizinerInnen, JuristInnen, HistorikerInnen, PsychologInnen u.a.), GedenkstättenmitarbeiterInnen und Interessierte, sei es im Rahmen von Forschungsprojekten oder auf ehrenamtlicher Basis. Wie Michael Wunder erzählt, kam es früher manchmal zu heftigen Diskussionen, etwa über die Bedeutung von Ereignisversus Wirkungsgeschichte, oder zur Frage von Regionalgeschichtsforschung im Nationalsozialismus („Unsere Heimatkundler“, Götz Aly) und der Notwendigkeit der Erforschung von Alltagsgeschichte, um eine Binnengeschichte des Nationalsozialismus überhaupt schreiben zu können (Dirk Blasius). Beim 25-jährigen Treffen herrschte kurz die Annahme - „Jetzt sind wir dann fertig“. Inzwischen befindet sich der Arbeitskreis jedoch wieder im Aufwind, wenn auch mittlerweile mit anderen Themen, wie u.a. der Erforschung von Biographien und der Individualgeschichte der Opfer, sowie der Erinnerungsarbeit und der Arbeit mit NachfahrInnen von Opfern. Zum politischen Selbstverständnis des AK gehört auch die kritische Stellungnahme zu aktuellen Themen, wie z.B. in der Frage der unfreiwilligen Sterilisation in der Gegenwart oder in eindeutigen Stellungnahmen zu menschenfeindlichen Attacken gegenüber vulnerablen Bevölkerungsgruppen aus dem rechten Eck. (Siehe S. 43, AfD-Anfragen im Deutschen Bundestag ...) Die Verschränkung von NS-“Euthanasie“ und Endlösung Die Organisatorin der diesjährigen Frühjahrstagung war Historikerin Manja Krausche. Sie sprach zum Brüder-und Pflegehaus Zoar-Martinshof im Nationalsozialismus. Ein Teil der Tagung fand auch dort, etwas außerhalb von Görlitz, im heutigen „Diakoniewerk Martinshof Rothenburg“ statt. Die Einrichtung war 1898 von der Inneren Mission, der „Brüderschaft Zoar“, als Pllegeanstalt für „männliche Idioten, Kranke, Sieche und Epileptiker“ gegründet worden.’ In den Jahren 1941/42 war der heute idyllisch anmutende Ort mit großzügig zwischen viel Grün verstreuten Häusern, ein Ghetto für 700 Jüdinnen und Juden, die von dort aus in Todeslager deportiert wurden. Zwecks „besserer Nutzung“ der Anstalt als Arbeits- und Durchgangslager für schlesische Juden waren zuvor, am 17. und 19. Juni 1941, über 100 Menschen mit geistiger Behinderung in den Tod der „Aktion T 4“ transportiert worden, sofern sie nicht bei Angehörigen unterkommen konnten. Noch im selben Monat wurden hier die ersten schlesischen Jüdinnen und Juden aus Orten wie Breslau, Glogau und Görlitz interniert. Als „Lager Tormersdorf“ unterstand es nun der Gestapo und wurde von einem sog. Judenrat in „Selbstverwaltung“ geleitet. Bis zu ihrer Deportation nach Theresienstadt, Auschwitz und Majdanek wurden die Internierten, unter ihnen auch Kinder, als ZwangsarbeiterInnen in umliegenden Betrieben wie der Kriegsindustrie in Niesky, beim Straßenbau, in der Landwirtschaft u.a. eingesetzt.‘ In seinen berühmten Tagebüchern erwähnt der Breslauer Historiker Willy Cohn (1888 — 1941) mehrfach das „Lager Tormersdorf“.’ Am 18. Juni 1941, d.h. zeitgleich mit der oben erwähnten Räumung und weniger als ein halbes Jahr vor seinem eigenen Tod, sprach er in Breslau mit Rabbiner Leo Baeck (1873 — 1956) darüber: Ich fragte ihn auch nach dem Schicksal des Beate-Guttmann-Heims, es kommt nach Rothenburg in der Oberlausitz. Ich trug meine Bedenken vor; er meinte aber, dass man für das Leben der alten Leute keine Besorgnis zu haben brauche; es seien auch sonst Altersheime verlegt worden, und es sei noch nichts vorgekommen; anders sei dies mit den Geisteskranken® Viele schlesische NS-Opfer wurden, so wie auch die behinderten BewohnerInnen des Martinshofs, in der Tötungsanstalt PirnaSonnenstein umgebracht. In der ehemaligen Festung oberhalb der heute malerischen Altstadt von Pirna südlich von Dresden, befand sich bis 1939 eine Heil- und Pflegeanstalt. Mindestens 13.720 Frauen, Kinder, Männer wurden dort von Juni 1940 bis August 1941 während der „Aktion T 4°“ mit Gas ermordet. Sie kamen vor allem aus Heil- und Pflegeanstalten, Altersheimen und Behinderteneinrichtungen aus Sachsen, Thüringen, Franken oder Gebieten des heutigen Polen oder Tschechien und waren zuvor mittels Meldebogenerfassung von den ÄrztInnen, die die Betroffenen nie zu Gesicht bekamen, als „lebensunwert“ eingestuft worden.’ Auch über 1.000 arbeitsunfähige Häftlinge aus den Konzentrationslagern Auschwitz und Groß-Rosen wurden im Sommer 1941 in dieser Tötungsanstalt umgebracht („Sonderbehandlung 14f13°). Heute befindet sich in Pirna-Sonnenstein, ebenso wie in Großschweidnitz in Löbau/Sachsen, eine Gedenkstätte. In der ehemaligen „Königlich-sächsischen Heil- und Pflegeanstalt Großschweidnitz“ gehörten bereits ab 1934 Zwangssterilisationen zur Anstaltspraxis und bereits ab 1938 erhielten sog. „unnütze Esser“ und „Ballastexistenzen“ eine „Sonderkost“, die nicht zum Überleben reichte. Etwa 2.500 psychisch kranke, behinderte und alte Menschen kamen über Großschweidnitz während der „Aktion T 4“ nach Pirna Sonnenstein und wurden dort getötet. Nach dem November 2018 41