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Stop der „Aktion T 4“ starben in Großschweidnitz bis Kriegsende über 5.700 Personen durch Medikamente, Mangelernährung, unzureichende medizinische Versorgung und Vernachlässigung. Ab 1943 befand sich auf dem Gelände auch eine sog. „Kinderfachabteilung“, in der 400 geistig und körperlich behinderte Kinder durch überdosierte Beruhigungsmittel getötet wurden. Es waren vor allem ehemalige KrankenhausmitarbeiterInnen, die dafür sorgten, dass die Ermordeten nicht vergessen wurden.* Ein organisatorisches Vorgehen in der NS-Vernichtungsmaschinerie scheint sich mehrfach wiederholt zu haben: So wie im Martinshof wurden auch in anderen Einrichtungen zuerst die Kranken und Behinderten getötet, um Platz für jüdische PatientInnen zu schaffen, che diese dann ebenfalls in Tötungsanstalten gebracht wurden. Henry Friedlander hat auf das Ineinandergreifen von NS-“Euthanasie“ und „Endlösung“ bereits in den 1980-er Jahren hingewiesen. Die Krankenmorde der NS-Zeit in Schlesien, Sudetenland und im Protektorat Böhmen und Mähren Statt den bis vor einigen Jahren angenommenen 200.000 während der „Aktion T 4“ und der sog. dezentralen „Euthanasie“ Ermordeten geht man mittlerweile von über 300.000 Todesopfern aus. Die Zahl erhöhte sich aufgrund der in den letzten Jahrzehnten durchgeführten Forschungen zu osteuropäischen NSKrankenmorden. Die Forschung intensivierte sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und mit der Zugänglichkeit der Archive. Der AK war an mehreren dieser internationalen Forschungsprojekte führend beteiligt. Doch auch ForscherInnen vor Ort wie Michal Simunek, Kamila Uzarczyk, Tomäs Fedorovic und Alfred Konieczny u.a. arbeiteten zur NS-“Euthanasie“ in Böhmen und Mähren, Schlesien und Polen.'® Viele der aus schlesischen und sächsischen Anstalten kommenden und in Pirna Sonnenstein ermordeten Menschen wurden über sog. „Zwischenanstalten“ wie Arnsdorf, Zschadraß, Waldheim und Großschweidnitz in den Tod transportiert. Andere starben in sächsischen Einrichtungen an Hunger und/oder überdosierten Medikamenten. Weiters wurden auch in Breslau und in Loben sog. „Kinderfachabteilungen“ errichtet, in denen „nicht entwicklungsfähige“ Kinder und Jugendliche getötet wurden. Insgesamt fielen zwischen 1939 und 1945 über 2.500 Menschen aus Schlesien den Krankenmorden zum Opfer. Die Angehörigen wurden, sofern vorhanden, mit erlogenen Todesursachen und Todesorten abgespeist, wie z.B. im Fall der 1903 geborenen Frieda Richter, eines sächsischen Mordopfers. Im Alter von 21 Jahren wurde bei ihr Schizophrenie diagnostiziert. Sie kam in die Anstalt Arnsdorf bei Dresden. Im März 1940 wurde sie nach Zschadraß verlegt und in Hartheim ermordet. Im Brief an die Angehörigen hieß es hingegen, Frieda Richter sei in einer Wohnung in Hartheim an den Folgen einer Nierenentzündung gestorben." Bei der Behandlung und Selektion der PatientInnen in Osteuropa spielte auch die jeweilige Volkszugehörigkeit ein Rolle, ebenso der Status der besetzten Länder.'? Laut Michal Simiunek unterschied sich beispielsweise die Situation im Sudentenland, das gleich nach der Besetzung im September 1938 als Teil des Deutschen Reichs betrachtet wurde, von jenen in den besetzten tschechischen oder polnischen Gebieten. An die rund 50 bestehenden Alters-, Siechen- und Pflegeheime im „Sudetengau“ 42 ZWISCHENWELT wurden Anfang Februar 1940 die Meldebögen der „T 4“-Zentrale verschickt. Die größten Einrichtungen waren Wiesengrund in Dobiany mit 2.900 Betten, die Anstalt in Sternberg (Sternberk na Morave) mit 1.250 Betten und die in Troppau (Opava) mit 1.300 Betten. Auch hier wurden die Menschen, häufig über Zwischenanstalten, nach Hartheim und Pirna Sonnenstein „verlegt“. Je nachdem ob die AnstaltsinsassInnen deutsch- oder tschechischsprachig, jüdisch oder nichtjüdisch waren, sollten sie eine unterschiedliche Behandlung erfahren. Tschechische PatientInnen waren eigentlich von der „Euthanasie“-Aktion ausgenommen und sollten ins Protektorat abgeschoben werden, doch auch sie kamen im Rahmen der T 4 Aktion ums Leben. Nichtjüdische PatientInnen mit deutscher Volkszugehörigkeit im Protektorat wurden 1940-41 in die Anstalt Kosmanos bei Jungbunzlau (Mladä Boleslav) gebracht und sollten von dort nach Pirna Sonnenstein weitertransportiert werden. Sie entkamen diesem Tod, weil in der Zwischenzeit die „Aktion T 4“ gestoppt wurde. TschechInnen und Kinder aus „gemischten“ Ehen wurden außerdem im Kontext der NS-Germanisierungspolitik nach ihrer „Eindeutschungsfähigkeit“ beurteilt. Aus dem Protektorat ausgewiesen werden sollten demnach vor allem Menschen, die „außereuropäische Rassenmerkmale“ aufwiesen oder als erbkrank oder erbbelastet galten — und zwar unabhängig von der Volkszugehörigkeit.'? Jüdische PatientInnen hingegen wurden, so Tomä$ Fedorovi£, im Rahmen der „Aktion T 4“ in die Tötungsanstalten Pirna Sonnenstein oder Hartheim transportiert und nach dem Ende der Aktion nach Theresienstadt bzw. in die „Ostgebiete“ deportiert, sofern sie nicht bereits in den Anstalten starben. Wie Dietmar Schulze schreibt, gab es keinen geradlinigen Weg von der „Aktion T 4“ zur dezentralen „Euthanasie“.'* Bedingt durch die Zerstörung der Städte im Bombenkrieg kam es zu großangelegten Patientenverlegungen, um die Häuser anderweitig, z.B. als Wehrmachtskrankenhäuser, zu nutzen („Aktion Brandt“). Für die PatientInnen waren die Verlegungen häufig ein erster Schritt auf dem Weg zu ihrer Ermordung. Anmerkungen 1 Die Frühjahrstagung wurde von der seit 1993 bestehenden Erika SimonStiftung gefördert, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, „das deutsche Kulturerbe für die deutschen und polnischen Schlesier zu bewahren und dadurch einen Beitrag zur Aussöhnung zwischen Deutschen und Polen für eine friedliche gemeinsame Zukunft in Europa zu leisten. Die nächsten Tagungen des Arbeitskreises finden im Herbst 2018 in Trier und im Frühjahr 2019 in Hadamar statt; siehe: https://www.ak-ns-euthanasie.de/ [Zugriff: 29.6.18] 2 Eine Organisation direkt Betroffener, der Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten e.V., wurde 1987 gegründet und im Jahr 2009 aufgelöst. 3 https: //www.gedenkort-t4.eu/de/historische-orte/qyggb-brueder-und-pflegehaus-martinshof-martinshof-rothenburg-diakoniewerk#schnellueberblick [Zugriff: 24.6.18] 4 Reinhard Leue: Denkort gegen das Vergessen. Zoar — Martinshof Rotenburg (Folder). 5 Willy Cohn arbeitete bis zu seiner Deportation als Historiker des Archivs der Jüdischen Gemeinde in Breslau und im Diözesanarchiv, während bereits immer wieder Nazis kamen, um seine Wohnung zu begutachten. Leider sind seine rund 80 Beiträge für die Germania Judaica, an der er zu diesem Zeitpunkt arbeitete, verschollen. Seine Tagebücher und seine Lebensgeschichte konnte er rechtzeitig verstecken. Gemeinsam mit seiner Frau und seinen beiden kleinen Töchtern wurde er Ende November 1941 nach Kaunas, Litauen deportiert und dort wenige Tage nach der Ankunft erschossen. Seine drei Kinder aus erster Ehe konnten rechtzeitig nach Palästina emigrieren.