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NEUE TEXTE Tuvia Rübner Nachtgedanken Im Alter kommt man leichter mit sich aus, aber nicht in sich hinein. Mehr ungehemmte Zärtlichkeit, mehr Verständnis Tieren gegenüber, ja, eine Art Solidarität. Keine Angst vor dem Nicht-mehr-sein, aber vor dem Sterben. Selbst bei dem dir nächsten Menschen viel Unausgesprochenes, Unverarbeitetes. Du glaubst alles zu kennen und wirst immer wieder überrascht. Im Alter wiegen Gedanken weniger. Man ist empfindlicher und gleichzeitig unempfindlicher. Im Alter fallen die Masken von Sprachspielen. Ein beliebiges Wort wie beispielweise „begreifen“ kann dir ein Rätsel sein. Und Wörter wie „Bergrücken“ oder „Lanzette“ dich wie vorsintflutliche Geschöpfe ansehen. Geistreich wirkt kindisch. In jedem Menschen steckt etwas Unzugängliches. Im Alter ist der Schlaf seichter, vielleicht als verborgener Wunsch, auch nachher werde er durchsichtig sein. Wir sprechen von Toten als sei es selbstverständlich, daß sie tot sind. Wie mild ist doch das letzte Licht. Es ist die Zeit „zwischen den Sonnen“ im Hebräischen, da die Sonne, gleich nachdem sie ihren Höchststand erreicht hat, die erste und die sinkende die zweite Sonne ist, wenn diese Erklärung stimmt, die ich las, als ich dem klischierten Ausdruck nachgehen wollte. Dringen Gedanken in anderes als in Gedanken? An Liebe, Schönheit, Tod tasten Gedanken herum. Wortloses ist unzugänglich, unbrauchbar. Wo ist die Grenze zwischen Spiel und Ernst in dieser irrealen Welt? Bedeutet „Ernst“ nicht bloss andere Spielregeln? Wenn die Welt irreal ist, weshalb hängen wir an ihr? Ein Widerspruch. Dem widersprochen werden kann. 48 _ ZWISCHENWELT Nur Glaube ist widerspruchslos. Ein stummes Lächeln. Oder eine Fratze. Meine Kenntnis vom Buddhismus ist rein oberflächlich. Buddhismus muß praktiziert werden. Ich praktiziere nicht. Ich bin unfähig, mich einem Lehrer mit Haut und Haar zu verschreiben. Zu schwach, um mich völlig fraglos hinzugeben. Aber nach dem Empfang bei Urgyen Tulku Rinpoche auf dem Hügel mit dem Kloster seines Sohnes, als er mir sagte, es gäbe 89 Wege des Wissens, aber das Dharma, die Lehre Buddhas, sei der beste, war nach dem Heraustreten ins Freie das ganze weite Tal, die Berge und der Himmel wie von innen her erleuchtet. Es war ein ganz eigenartiges Licht. Nie vorher und nie nachher hatte ich das Gefühl solcher Ausgeglichenheit. Heute noch, zwanzig Jahre später sehe ich Urgyen Tulku vor meinem geistigen Auge und ich spüre mich zu ihm hingezogen, tief beschämt. Ich sah in YouTube eine Japanerin eine mittelgroße weiße Vogelfeder auf einen gebogenen Zweig legen und im Gleichgewicht halten. Nachher kamen unter den Zweig (oder Ast) andere leicht gebogene — das Gleichgewicht blieb bewahrt, immer weitere bis es eine ganze Konstruktion aus Holz gab, die frei stand und sich leicht drehte. Als die Konstrukteurin die Feder wegnahm stürzte der ganze Bau augenblicklich zusammen. Oft hängt so an einem kleinen Wort ein ganzes Gedicht, das ohne es seinen Sinn verlöre. Ich erinnere mich wie Izis, der große französische Fotograf des vorigen Jahrhunderts, den heute hier keiner mehr kennt, selbst Fotografen nicht — wer weiß ob in Frankreich (selbst die Ewigkeit von Meisterwerken verkürzt sich radikal) —, auf einem Foto von Cartier-Bresson eine winzige Gestalt mit dem Finger zudeckte: alles fiel auseinander. Kann nicht so EIN Blick das Leben eines Menschen bestimmen? Wir leben in einer irrealen Welt, weil wir uns in der sogenannt realen an allen Ecken und Enden betrogen schen. Auch darin war, wie in der Programmierung, Legalisierung und Entfesselung des Bösen in uns, so wie in der Abstrahierung des Menschen von allem außer seinem Körper, der der Vernichtung bestimmt war, ähnlich wie bei Tieren als Schlachtvich, das Hitlerregime paradigmatisch. Es trieb den Betrug auf die Spitze. Menschen werden immer überflüssiger. Der Schein immer mächtiger. „So laßt mich scheinen bis ich werde.“ Wir werden nicht mehr. Wie viel Einfältigkeit braucht es, um „Der Mond ist aufgegangen, die goldnen Sternlein prangen“ ohne ‚besseres‘ Wissen aufzunehmen. Wie nachdenklich macht uns ein gereimtes silbentreues Gedicht.