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wiederkehrenden, verheerenden Elbhochwässer. Wenn man aus Wegstädtl ist, sollte man vielleicht doch lieber nicht vom Eiffelturm springen. Ob mit oder ohne Fallschirm. Eine Kamera filmt mit, wie die Fledermaus Reichelt in ihrem cher unförmigen Fallschirmsprunganzug auf einen Tisch steigt, der an das Geländer der Aussichtsplattform gerückt ist. Alle Nähte sind einwandfrei, saubere Arbeit. Reichelts beeindruckender Walross-Schnurrbart zittert nicht. Seine große Pullman-Kappe ist vertrauenerweckend. In diesem Augenblick ist er der größte Fallschirmspringer. Weltweit und sowieso und überhaupt. Franz Reichelts gestählter Sportkörper schlägt so etwas wie einen kleinen Krater in die Wiese unter dem Eiffelturm. Dessen Tiefe schon wenige Sekunden nach seinem Tod von einem vorwitzigen französischen Reporter ausgemessen wird. Vladimir Vertlib Im Jahr 2017 ist der 101-jährige Brite Verdun Hayes mit dem Fallschirm aus viereinhalb Kilometer Höhe über der Grafschaft Devon abgesprungen. Ein paar Jahre zuvor ist der 55-jährige Rollstuhlfahrer Marc Kopp aus zehn Kilometer Höhe mit einem Fallschirm über dem Mount Everest abgesprungen, na ja, sagen wir cher aus dem Laderaum eines Flugzeuges gekippt. Es ist gar nicht zu sagen, wie schr sich die arme Seele Reichelt noch immer giftet. Von Manfred Wieninger, Theodor-Kramer-Preisträger des Jahres 2013, ist zuletzt der Roman „Aasplatz. Eine Unschuldsvermutung“ erschienen. Erster von vier „Versuchen“ des Autors, im Rahmen der Vorlesungsreihe „Ost-West-Passagen“ am Institut für Slawistik der Universität Salzburg die in den sogenannten Visegrad-Staaten und in Russland verbreiteten Einstellungen zu erklären. Der Vortrag, gehalten am 26. Jänner 2017, trug den Titel „Osteuropa — ein persönlicher Rundumschlag“. Der dritte „Versuch“ ist bereits in ZW Nr. 1-2/2017, S. 52-53, unter dem Titel „Rechte und Mächte“ erschienen; der zweite „Versuch“ in ZW Nr. 1-2/2018, S. 72-75, unter dem Titel „Die Ukraine kennt sie alle“. Und ich wohne im Dunkeln, im Hinterhaus, den Klingelknopf reifst wie Fleisch man heraus. Ossip Mandelstam, Leningrad, Dezember 1930 Nicht in Russland méchte ich meinen Vortrag beginnen und in keinem anderen osteuropäischen Land, sondern in der Türkei. Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen, die ich vor Jahren in dem 1997 erschienenen Buch mit dem Titel Cafe Istanbul. Alltag, Religion und Politik in der modernen Türkei gelesen habe. In den Neunzigerjahren machte in Istanbul ein schr verstörendes Gerücht die Runde (ob es einen wahren Kern hat oder nicht, sei dahingestellt): ein japanischer Konzern habe der Stadtverwaltung den Vorschlag gemacht, das Goldene Horn, das damals cher einer stinkenden Kloake glich, zu reinigen, und zwar unentgeltlich. Als Entschädigung erhebe der Konzern nur den Auspruch auf die Schätze, die er im Zuge besagter Reinigung am Grunde des Goldenen Horns finden würde. Die Stadtverwaltung habe diesen Vorschlag abgelehnt und damit — so jedenfalls dachten damals viele Bewohner Istanbuls — absolut richtig gehandelt, denn, bekam man damals in Istanbul immer wieder zu hören, besser, es bleibe alles beim Alten und die Kostbarkeiten verborgen, als dass sie außer Landes gebracht würden. „In meiner Deutung dieser Geschichte“, schreibt Günter Seufert, der Autor von Cafe Istanbul, „steht Japan hier mit seiner Technologie und Aktivität, mit seinem Know-How und Unternehmergeist für die moderne und vom Westen geprägte Zeit, steht stellvertretend für ‚die Anderen‘, die diese Zeit beherrschen. Das Goldene Horn hingegen repräsentiert die eigene, keineswegs rosige Lage, ‚den Osten‘, die Türkei und, aus der Sicht der Sprecher, ‚UNS‘. Die Episode beschwört die Überzeugung, dass ‚der Osten‘ über Schätze verfügt, unzählbar und unmessbar in ihrer Fülle, und dass trotz aller Widrigkeiten das eigentlich Kostbare und Überdauernde bei ihm [also im Osten] daheim ist. Kostbarkeiten sind das, die nichts von ihrem Glanz verlieren, auch wenn sie heute bis zur Unkenntlichkeit mit Schmutz und mit Fäkalien bedeckt sind.“ Sie können sich denken, warum ich Ihnen diese Geschichte erzähle. Als ich sie das erste Mal las, dachte ich mir: es geht in diesem Buch zwar um die Türkei, doch was hier geschildert wird, ist eine Metapher, die auch für „UNS“ Gültigkeit hat. Wir, das sind jene, die aus dem so genannten „Osten“ stammen, ein Ausdruck, den stimmigerweise auch Günter Seufert selbst in der soeben zitierten Passage, wenn auch unter Anführungszeichen, verwendet, spricht er doch bezeichnenderweise nicht vom Orient, vom Nahen Osten oder der islamischen Welt, sondern vom Osten ganz allgemein. Nun kann man darüber diskutieren, wo der „Osten“ beginnt, ob schon in Eisenach, Usti nad Labem oder Bratislava, in Mukatschewo, Narwa oder Maribor oder vielleicht doch erst in Istanbul. Über den Begriff wird seit Jahrhunderten diskutiert, doch Seufert lässt ihn bewusst offen, verwendet ihn salopp, weil es weniger um eine klare geographische Zuschreibung, sondern vielmehr um eine Geisteshaltung und Weltsicht, um Selbst- und Fremdwahrnehmung und vor allem um Gefühle geht... Fünf Jahre war ich alt, als meine Eltern und ich die Sowjetunion verließen. Als ich nach der Emigration das erste Mal in meine Geburtsstadt zurückkehrte, hieß sie nicht mehr Leningrad, sondern wieder St. Petersburg, es war Herbst 1993, die Stadt wirkte wie paralysiert, trist und niedergeschlagen nach den vielen Jahren der Diktatur und den wenigen Jahren der Perestrojka, welche nach der anfänglichen Euphorie und der Aufbruchstimmung zum Niedergang und Elend, Kriegen, Lebensmittelkarten, Hyperinflation und Vermögensverlust geführt hatte. Ein Kilo Brot kostete 200 Rubel; zwei Jahre zuvor war dies noch ein gutes Monatsgehalt. November 2018 53