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Außerdem fand in Moskau gerade ein Machtkampf zwischen Präsident Jelzin und dem noch aus Sowjetzeiten stammenden Kongress der Volksdeputierten statt, der für Verunsicherung und Angst sorgte und bekanntermaßen blutig ausgetragen wurde. Dennoch hatten viele Menschen die Hoffnung noch nicht verloren, glaubten oder hofften insgeheim, dass alles bald oder zumindest in absehbarer Zeit besser werde, auch wenn die Lebensrealitat der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung keineswegs danach aussah. Es schien mir, als befinde sich die ganze Stadt in einer schweren depressiven Verstimmung, wenn auch noch nicht in einer echten Depression. Düster und schäbig war die Stadt, und doch hatte keine Katastrophe vermocht, ihre Schönheit zu zerstören, weder davor noch danach. Kaum war ich angekommen, wurde ich von sämtlichen Verwandten vor den Gefahren gewarnt, denen ich mich auf den Straßen St. Petersburgs aussetzte. Beschimpft, gedemütigt, bestohlen, betrogen, ausgeraubt, ermordet oder noch Schlimmeres könne mir, einem deutlich als „Westler“ erkennbaren jungen Mann, geschehen (mein Onkel berichtete von „abgemurksten“ "Touristen und verwendete dabei das schwer zu übersetzende Wort ukoköschili), und so beschloss ich, mich zu verkleiden, zog die alten Hosen, Schuhe, Hemden und den Mantel meines Onkels an — die Sachen passten mir (mehr oder weniger), und auf einmal sah ich nicht nur einheimisch, sondern richtig abgetackelt, also für russische Verhältnisse normal aus. Man nahm mir den Einheimischen ab, obwohl mein Russisch für manche etwas antiquiert klang. Mein in St. Petersburg lebender Cousin erklärte mir, ich gebrauche Ausdrücke, die üblicherweise von siebzigjährigen Damen und nicht von jüngeren Leuten (ich war damals 27) verwendet würden. Hin und wieder runzelte jemand die Stirn oder war erstaunt, wenn ich nach Worten rang oder holprige Formulierungen verwendete, doch hatte ich mich bald so weit angepasst, dass ich Museen und andere Sehenswiirdigkeiten zum billigen Tarif für GUS-Bürger, der damals etwa ein Zehntel von dem ausmachte, was Ausländer zahlen mussten, betreten durfte. Keiner fragte nach oder kontrollierte meinen Ausweis. Das machte mich stolz, manchmal sogar ein bisschen glücklich, und Sie verstehen natürlich, dass dies nichts mit den für mich lächerlich geringen Beträgen zu tun hatte, die ich dabei sparte... Vor dem Eingang zur Zarenpalais und dem berühmten Park von Petergof, der damals noch Petrodworets hieß, hatte ein älterer Mann einen Stand (es war, soweit ich mich erinnern kann, nichts weiter als ein Holztisch) aufgebaut und bot Ansichtskarten zum Verkauf an. Ich blieb stehen, schaute mir die Bilder an. Sie waren von minderer Qualität, sowjetische Massenware, die Abbildungen waren grobkörnig, manchmal verwaschen, die Farben blass. Doch gerade deshalb gefielen sie mir, erinnerten sie mich doch sehr an jene Ansichtskarten, die ich in meiner Kindheit von meiner Großmutter geschenkt bekommen hatte. „Nein, das ist nichts für Sie“, erklärte mir plözlich der Verkäufer. „Das ist für Touristen aus dem Westen. Gehen Sie um die Ecke, dort hinüber, hinter der Mauer, dort finden Sie einen anderen 54 ZWISCHENWELT Stand mit qualitativ viel besseren Ansichtskarten, die außerdem nur halb so teuer sind. Die sind für unsere Leute.“ Ich zögerte. „Gehen Sie schon!“, insistierte der Verkäufer. „Ich gebe Ihnen diesen guten Rat, in Ihrem eigenen Interesse, auch wenn mir dadurch ein Geschäft entgeht. Gehen Sie lieber zu meinem Kollegen.“ Er zeigte mit dem Finger in die entsprechende Richtung. „Dort finden Sie einige wirklich gelungene und außerdem billige Fotos von Petrodworetz und von einigen anderen Schlössern.“ Ich zögerte immer noch. „Wissen Sie“, erklärte er mir. „Die Ausländer merken den Unterschied ohnehin nicht. Sie schätzen unser kulturelles Erbe nicht und erkennen nur selten seinen Wert. Aber wenn Sie schauen, wie schäbig und heruntergekommen bei uns alles ist, kann ich das den unwissenden Touristen aus Europa oder Amerika nicht wirklich verübeln. Sie sind oberflächlich. Für sie muss alles strahlen, damit sie es schen.“ Ich murmelte etwas, ich hatte Angst etwas zu sagen, was mich verriet. „Es gibt diese besondere, die schöne Perspektive auf die Dinge“, sinnierte der Verkäufer, „eine Perspektive, die das Wesen der Dinge zum Vorschein bringt. Doch diese können nur wir erkennen, und nur wir wissen sie zu schätzen und verstehen, was sie bedeutet. Gehen Sie um die Ecke — zum Stand meines Schwagers. Dort bekommen Sie alles billiger. Ich kenne übrigens den Fotografen gut, der die Bilder gemacht hat.“ So oder so ähnlich sprach der Verkäufer, er sprach ernst, ruhig, sogar bedächtig, keineswegs insistierend, sondern cher resignativ. Ich kaufte bei ihm trotzdem einige Ansichtskarten und nicht bei seinem Schwager um die Ecke. Warum? Aus Trotz vielleicht. Vielleicht auch, weil ich hinter dieser Geschichte irgendeine Gaunerei befürchtete. Heute denke ich, dass der Verkäufer alles genau so meinte, wie er es mir gesagt hatte. Vielleicht aber lag der Grund, warum ich mich zum Kauf gerade dieser minderwertiger, überteuerter Ansichtskarten entschieden hatte, darin, dass ich ein schlechtes Gewissen hatte, ein schlechtes Gewissen, weil ich mich verkleidet hatte und für jemanden anderen ausgab, weil ich das Glück gehabt hatte, rechtzeitig der Welt, in der ich mich gerade befand, zu entflichen, weil ich zwar jeden Tag, jede Stunde, jede Minute meines Russlandaufenthaltes als existenziell und wichtig erlebte und doch froh war, jederzeit wieder wegfahren zu können. Und selbstverständlich war es mir unangenehm, ja geradezu peinlich, den Erwartungen des Verkäufers, der gut zweimal älter war als ich, nicht zu entsprechen. Musste er mich nicht für undankbar und dumm halten? „Wie Sie wollen“, sagte er mit einer Mischung aus Enttäuschung und Erstaunen, als ich auf dem Kauf insistierte. „Es ist Ihr Geld.“ Die Ansichtskarten kamen mir teurer zu stehen, als ihm bewusst war. Von Vladimir Vertlib ist dieser Tage der neue Roman „Viktor hilft“ bei Deuticke in Wien erschienen.