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der Mutter, keine einfache Aufgabe in der sehr konservativen Nachkriegszeit. Susanne Scholl, eine Freundin der Autorin aus frühester Kindheit, erzählte anlässlich der im März dieses Jahres stattgefundenen Buchvorstellung, dass sie das Buch zweimal völlig unterschiedlich aufgenommen habe: 1984 habe es sie aufgrund des frechen, komödiantischen Stils erheitert, 34 Jahre später, nun stärker dem Drama der Mutter nachempfindend, traurig gemacht. Das Themenfeld der Psychoanalyse beschäftigte Claudia Erdheim über einen längeren Zeitraum: Aus der Erfahrung eigener Therapiebesuche erschien bereits im Jahr nach dem Solidarität unter Frauen sei Gabriele Tergits „Gebot“ gewesen, sie habe sich nach ihrer Auffassung „über alle sozialen Grenzen hinweg zu erstrecken“, schreibt Elke-Vera Kotowski in ihrer Kurzbiographie über das Credo der „Großstadtchronistin der Weimarer Republik“. Einen Namen machte sich Gabriele Tergit, die 1894 in Berlin als Elise Hirschmann geborene Tochter des Gründers der Deutschen Kabelwerke, als Journalistin und Gerichtsreporterin. Sie war die erste und einzige Frau „im Ort der Männer“, wie Gabriele Tergit das Berliner Kriminalgericht selbst einmal nannte. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Paul Schlesinger hob sie ein neues literarisches Genre aus der Taufe: die Gerichtsreportage. Denn vor Gericht erkenne man sehr viel von den sozialen Zusammenhängen einer Epoche, sagte Tergit einmal in einem Gespräch. In ihren Berichten aus dem Gericht ging es ihr, wie Kotowski zu Recht hervorhebt, um den Menschen hinter dem Angeklagten, um sein individuelles Schicksal. Tergits wichtigstes Ihema waren die Frauen, die stark unter den inhumanen Lebensbedingungen jener Zeit litten. Sie schilderte beispielsweise, wie sich Dienstmädchen, die ungewollt schwanger wurden, meist von ihren Dienstherren, sich in die Hände von Kurpfuschern begaben und wegen des Paragrafen 218 vor Gericht kamen: „Vor Gericht kommen meist nur die Fälle, die mit dem Tod enden. Von den Hunderttausenden, die Siechtum bringen, erfahren wir nichts“, ließ Tergit ihre Leser wissen. Mit ihren klugen Artikeln verfasste Tergit, so Kotowski, ganz nebenbei eine Sozialgeschichte Berlins. Während ihrer Kindheit und Jugend im Arbeiterbezirk Friedrichshain lernte sie die Lebenswirklichkeit der Armen kennen. Bevor Gabriele Tergit eine feste Anstellung beim Berliner Tageblatt erhielt, besuchte sie die „Soziale Frauenschule“ von Alice Salomon, ungewöhnlich für eine Fabrikantentochter zu jener Zeit. Ihr erster, 1915 gedruckter Zeitungsartikel erschien unter dem Titel „Frauendienstjahr und Berufsbildung“ und war Tergits Appell, endlich anzuerkennen, dass Frauen ein Recht auf eine Fachausbildung hätten. Auch Tergits Feuilletons griffen stets aktuelle Themen auf, die „selbst der heutigen Leserin den Blick auf die damalige Zeit“ freilegen. War Gabriele Tergit privat eher zurückhaltend, so waren ihre Texte furchtlos und zeugten von Selbstbewusstsein. 64 ZWISCHENWELT Sie attackierte in der von Carl von Ossietzky herausgegebenen Weltbühne die Nazis, nahm gesellschaftliche Phänomene aufs Korn und kritisierte die zunehmende Verrohung der Sitten im Gerichtssaal und in der Republik. In ihrem ersten Roman Käsebier erobert den Kurfürstendamm, der 1931 veröffentlicht wurde, ein Riesenerfolg war und Kotowskis Urteil zufolge ein fulminanter Großstadtroman ist, richtete sie einen satirischen Blick auf den Berliner Presse- und Kulturbetrieb. In pointierter Sprache schildert sie Aufstieg und Fall eines Volkssängers, die erlebnishungrige Berliner Gesellschaft und einen gewissenlosen Sensationsjournalismus. Beeindruckend Tergits politische Hellsichtigkeit, „(...) denn die fetten Jahre, der Tanz auf dem Vulkan, sind bald vorbei und was folgt ist weder ‚Heil‘ noch ‚Sieg‘.“ Tergits überstürzte Flucht im März 1933 über Prag, Tel Aviv nach London, ihre eingeschränkten Arbeitsmöglichkeiten wie ihre Probleme, mit der britischen Mentalität zurechtzukommen, werden plastisch nachgezeichnet: Freunde, Kollegen und Zeitgenossen kommen zu Wort und Zitate aus Tergits posthum erschienenen Erinnerungen Etwas Seltenes überhaupt und aus ihrem privaten Nachlass runden das Lebensbild ab. Allzu kurz gerät der Autorin Tergits Leben nach dem Ende des „Tausendjährigen Reiches“. Zwar erfährt man etwas über ihren Familienroman Effingers, eine Chronik über vier Generationen hinweg, aber wenig über Tergits Wiederentdeckung Ende der siebziger Jahre und nichts über ihre Kleine Kulturgeschichte der Blumen und Das Tulpenbüchlein. Abgerundet wird die von der Moses-Mendelssohn-Stiftung geförderte Schrift mit dem Hinweis, dass knapp zwanzig Jahre nach ihrem Ableben am 25. Juli 1982 eine Novelle unter dem Titel Der erste Zug nach Berlin erschien, „in der sie ihre Erfahrungen auf ihren Reisen durch Deutschland Ende der 1940er Jahre“ verarbeitet. Christiana Puschak Elke-Vera Kotowski: Gabriele Tergit. Großstadtchronistin der Weimarer Republik. Berlin: Hentrich&Hentrich 2017. 725. 21 Abb. € 8,90 (Jüdische Miniaturen). Erstlingswerk die schonungslose Abrechnung „Herzbrüche. Szenen aus der psychotherapeutischen Praxis“ (1985). Paulus Adelsgruber Claudia Erdheim: Bist du wahnsinnig geworden? Wien: Czernin 2018. 128 S. € 20,- (Neuauflage) Die Juden von Wiesmath Wiesmath ist eine kleine Marktgemeinde im Bezirk Wiener Neustadt, in der der spätere Wiener Gymnasiallehrer Lorenz Glatz bis zu seinem 10. Lebensjahr aufgewachsen ist. Nachdem er 2004 in der Datenbank des Holocaust Memorial Museum in Washington den Namen einer Überlebenden aus Wiesmath fand, wurde ihm das Schweigen in seiner Kindheit und das Fehlen des Bekenntnisses der Involviertheit in eine menschenfeindliche Ideologie der älteren Generation bewußt. Die Verdrängung ging so weit, dass die Tilgung des Namens eines jüdischen Gefallenen des Ersten Weltkriegs, Robert Reininger, am örtlichen Kriegerdenkmal auch nach 1945 bestehen blieb. Glatz begann die Geschichte der jüdischen Familien in seinem Heimatort zu recherchieren. Nun hat er sie anhand von zahlreichen Fotos und Erinnerungen in einem Buch dem Vergessen entrissen. Es gab zwei jüdische Geschäfte in Wiesmath, die von den in Wien und Niederösterreich weitverzweigten Familien Jaul und Reininger betrieben wurden. Den jüngeren Familienmitgliedern gelang die Flucht nach Palästina (für einige wegen der britischen Einreisebeschränkungen mit dem jahrelangen Umweg über Mauritius), Uruguay und in die USA. Zwischen 2008 und 2014 besuchte Glatz zusammen mit seiner Frau Hedwig Seyr-Glatz die Nachkommen der Juden von Wiesmath in Haifa, New Jersey, Kalifornien und Florida, wobei sie als Mitglieder der Friedensorganisation Servas reisten. Die so gesammelten Erinnerungen sind in die Publikation eingeflossen; grundlegende Informationen konnte der Autor auch dem 2013 publizierten umfangreichen Buch von Werner Sulzgruber über jüdische Familien im Bezirk Wiener Neustadt entnehmen. Hervorzuheben an dem Buch ist die klare und genaue Sprache des Verfassers. Auch die Reflexionen, mit denen er sein aufwendiges Unterfangen, dem Leben (und nicht nur der Vertreibung und dem Tod!) der verlorenen Nachbarn nachzugehen, begleitet, sind lesensund bemerkenswert. Die Konturen der Verdrängung im Heimatort selbst zeichnet das Buch aufschlussreich nach. EA. Lorenz Glatz: Reisen zu verlorenen Nachbarn. Die Juden von Wiesmath. Wien: Löcker Verlag 2017. 188 S. € 19,80