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Im Dossier Comicland Österreich, lesen wir, von Martin Reiterer verfaßt, eine würdigende Darstellung der Comic-Serie „Tobias Seicherl und sein Hund“, die ab 1930 in der Wiener sozialdemokratischen Zeitung „Das kleine Blatt“ erschien. Das heißt es: „Als heutiger Leser wird man verblüfft sein, wie ahnungsvoll Kmoch bereits Anfang der 1930er Jahre Zustände im ‚Dritten Reich‘ satirisch imaginiert und vorwegnimmt.“ Abgesehen davon, daß dies einfach nicht zu belegen ist, fehlt hier jede kritische Analyse der Seicherl-Figur in ihrer spießbürgerlichen Kleinmenschlichkeit. In meinem Aufsatz „Die Karrieren des Kleinen Mannes. Hirnschal, Seicherl, Schwejk und Bockerer im Zweiten Weltkrieg“ (aktualisierte Fassung in: Ohnmacht und Empörung, Wien 2008) stelle ich „Seicherl“ in den historisch-kulturellen Zusammenhang und schreibe über Kmoch: „Noch 1926 hatte Ladislaus Kmoch (1897 — 1971) fiir das reaktionare Wiener Witzblatt Die Muskete Karikaturen streikender Arbeiter als einer abstoßenden Horde ‚letzter Menschen‘ entworfen. Dort hatte er mit Ludwig Kmoch gezeichnet; seinen eingedeutschten Vornamen nahm er wieder an, als das Dollfuß-Schuschnigg-Regime nach dem Februar 1934 die Kontrolle über das Kleine Blatt erlangte und auf die populäre Figur des Seicherl nicht verzichten zu können glaubte. Nach übereinstimmenden Aussagen von Zeitzeugen war Kmoch schon damals rabiater Antisemit. 1938 entpuppt sich Kmoch als Mitglied jener zuvor illegalen nationalsozialistischen Gruppe in der Redaktion der Kleinen Zeitung, die zunächst einmal das Kommando übernimmt. [...] Zunächst jedoch überlebt Seicherl, mehr mit häuslichen Mißgeschicken befaßt, den Ständestaat, um sich ab der Annexion Österreichs 1938 in ein getreueres Spiegelbild seines Herrn zu verwandeln: Als pfiffiger Antisemit durchstreift er mit Hund Struppi und ‚Schwasser‘ — offenbar einem Im Zentrum Wiens brannte der Stephansdom, das bekannteste Wahrzeichen der Stadt. Dies zeigt das Foto am Cover der Autobiografie einer Wienerin, die als Kind ein absolut wechselvolles Schicksal erlebt hat: Die Tochter eines jüdischen Vaters wird über schicksalshafte Verknüpfungen zur Stieftochter eines SS-Offiziers, der in oder um Auschwitz zu Tode kommt. Am Ende stehen Mutter und Tochter nach dem Einmarsch der Roten Armee vor einer devastierten Wohnung, die sie nicht beziehen diirfen. Not, Entbehrung und Demiitigung sind die Begleiter eines jungen Menschen. Das Frappante dieser in einer berithrenden Sprache erzählten Lebensgeschichte ist aber, dass Menschen wie die Autorin dieses nicht nur um sie, sondern auch in ihr selbst eingetretene Chaos sowohl körperlich wie auch mental quasi „gesund“ und ohne nachhaltige Schädigung der Persönlichkeit überstanden, ausgestanden und überwunden habent. Man wird als Leser Zeuge, wie ein Mensch unversehens zwischen zwei Ufern leben muss. Gleichzeitig setzt dieser Lebensbericht einem Ehepaar ein kleines, aber ebenso verdientes Gedenken: Das damals noch in der Untermittelschule angesiedelte Mädchen findet über eine der seinerzeit üblichen Aktionen für unterernährte Kinder Aufnahme bei einer schweizer Familie. Die Schweiz wird der heute bejahrten Ex-Österreicherin zur zweiten Heimat. Sie kann mit Hilfe dieser Familie nach der Matura in die Schweiz emigrieren, um dort ein neues Leben als Krankenschwester zu beginnen. Die Worte, die Elisabeth Häubi-Adler für ihren Bericht findet, sprechen deshalb den Leser so fesselnd an, weil sie authentisch sind, weil sie aus den Tiefen des höchst persönlichen Erlebens in einer sehr einfachen Form dargeboten werden — ohne jedwede wissenschaftliche Schnörkel. Und man kann sich angesichts der vielen „Zufälle“, die dieses Einzelschicksal umrahmen, nur wundern, was in einem Menschenleben alles passieren kann. Man wird eben nicht „gefragt“ und findet dennoch immer wieder Antworten. Volksgenossen aus dem ‚Altreich‘, der sich ihm gesellt hat — Palästina, sucht den Völkerbund mit seinen selbstredend schlafenden Beamten und seiner internationalen jüdischen PresseMafıa (die nichts als ‚Greulnachricht'n‘ über Österreich haben will) heim, um schließlich mit Erleichterung nach schwieriger Reise in ein von Juden ‚befreites‘ Österreich zurückzukehren.“ Bei Reiterer liest sich das so: Daß Seicherl „die Jahre 1934 und 1938 [...] übersteht, wirft allerdings Fragen an den Autor auf, der selbst politische Zensuren und Zäsuren überlebt.“ Reiterer weist auch auf die „plumpeste antisemitische Propaganda“ Kmochs nach 1938 hin. Die Problematik der Seicherl-Figur ist damit aber im Müllkübel des Nationalsozialismus entsorgt. K.K. Dossier Comicland Österreich. Hg. von Martin Reiterer. In: Literatur und Kritik (Salzburg) Nr. 525-526 (Juli 2018), S. 21-84. Dieser Darstellung wohnt auch eine gewisse Aktualität inne. Wir sollten heute, wenn wir über das Flüchtlingsthema sprechen oder nachdenken, uns bewusst sein, dass hier in Österreich von 1938 bis hinein in die Fünfzigerjahre zeitweise nicht unähnliche chaotische Verhältnisse geherrscht haben, wie wir sie heute behaglich am Fernsehschirm an uns vorbeiziehen lassen. Der bleibende Eindruck dieser Darstellung ist eine persönliche Begegnung mit einem Menschen, der ohne Vorbehalte all das schildert, was er als Kind und junges Mädchen erlebt, auch erlitten hat — mit einer selten zu findenden Authentizität inmitten eines wahrlich zerstörerischen Weltgeschehens. Aber das Leben geht weiter und unsere Erde bewegt sich noch! Bruno Tichy Elisabeth Häubi-Adler: Brave Mädchen fragen nicht. Eine Kindheit im Dritten Reich. Zürich: Elfundzehn-Verlag 2017. 299 S. Anneliese Landau wurde 1903 in Halle an der Saale geboren. Ihr Vater Samuel stammte aus Galizien und absolvierte in Wien, wo ein Onkel von ihm lebte, eine Kaufmannslehre. Rosa, ihre Mutter, war Samuels Großcousing; sie war eine geborene Sadger. Isidor Sadger, der Schüler von Sigmund Freud, war Annelieses Großonkel. Mit seinem Bruder Alexander gründete Samuel ein Eier-Import Geschäft und übersiedelte nach Halle. Er war aktiv in der B’nai B’rith; Rosa wurde Präsidentin der Frauenloge und ein aktives Mitglied im Frauenbildungsverein. Landau studierte in Halle und Berlin und trat 1929 in die SPD ein. 1930 promovierte sie über das Kunstlied Conradin Kreutzers und betreute die „Musikalische Zeitschriftenschau“ der von Alfred Einstein herausgegebenen „Zeitschrift für Musikwissenschaft“. Von 1933 bis 1939 war sie als überaus erfolgreiche Vortragende im Kulturbund der deutschen Juden und im Jüdischen Lehrhaus Berlin tätig. 1935 übersiedelten ihre Eltern nach Berlin. Ihre engsten Freunde waren Franz Wilhelm Beidler, der Enkel Richard Wagners, und dessen Frau Ellen Annemarie Beidler. 1939 emigrierte Landau über Amsterdam und London nach New York. Sie arbeitete in November 2018 65