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kursorischer Bezug auf die deutsche „Novemberrevolution“). Die skizzenartige Darstellung durch den Erzähler, den Vogt aus meiner Sicht nicht von der eigenen Person trennt, ist zwar weit davon entfernt, den Text in eine historische Abhandlung abgleiten zu lassen. Aber er nennt zielsicher jene bedeutsamen Figuren dieser bayrischen Revolution, die nicht nur Augusts Ambitionen entsprechen, sondern die wohlauch dem Autor vorbildhaft erscheinen, den bis heute in Deutschland und Bayern verleugneten ersten Ministerpräsidenten des nach dem Sturz der Wittelsbacher von ihm ausgerufenen „Freistaats Bayern“, Kurt Eisner, den pazifistischen Anarchisten Gustav Landauer und vor allem den anarchistisch-kommunistischen Schriftsteller und Revolutionär Erich Mühsam. Gerade im Hinblick auf diese Münchner Räterepublik (die vielleicht auch der Nähe zu Österreich wegen eine Rolle spielt) könnte der „Stadt ohne Seele“ Das Buch ist eine Materialcollage mit einigen gelungenen Formulierungen. Es ist leider nicht sehr gut recherchiert; auch die Lektorin Maria Matschuk hat einiges übersehen. Die Anmerkungen sind äußerst knapp und sparsam gehalten; zu der folgenden absurden Behauptung gibt es gar keine Fußnote: „Als er [Joseph Schmidt] von der Ermordung seiner beiden Schwestern in Theresienstadt erfuhr, nahm er sich das Leben.“ Der Wiener Oberrabbiner Israel Taglicht trägt den Namen Emil Taglicht, auch im Personenindex. Die schlampige Formulierung über Löhner-Bedas Heirat „in der Israelitischen Kultusgemeinde“ (wohl in einer leicht eruierbaren Hinweis auf die Mann-Brüder irritieren. Wurden Vogts zwei Brüder, wie sich gegen Ende der Geschichte erweist, von den Nationalsozialisten als Juden stigmatisiert und ins Exil getrieben, so war Thomas Mann zu Zeiten der Miinchner Raterepublik noch klassisch antisemitisch unterwegs, wie in einem kiirzlich erschienen historischen Werk über die Münchner Räterepublik nachzulesen ist: Eisner attestierte dieser geachtete Großschriftsteller die „großstädtische Scheißeleganz des Judenbengels“ und den Münchner Revolutionären generell: „Es handelt sich so gut wie ausschließlich um Juden.“ Hat Vogt dem Klappentext, den der Verlag im Buch, aber auch im Netz verbreitet, zugestimmt? Zumindest das Folgende davon verstehe ich nicht: Die Erzählung sei „ein Abgesang auf Europa, so als habe der Untergang des Abendlandes doch, wie vor hundert Jahren behauptet, stattgefunden“. — Besteht heutzutage eine Synagoge und kaum in den Büroräumen der Gemeinde) ist direkt von Günther Schwarberg übernommen. Die Vereinigung „Hadimah“, der Beda angehörte, ist ein Tippfehler; in der Quelle steht es korrekt („Kadimah“). Wenn Flügge paraphrasiert, liest es sich so: „In Synagogen wurden Juden gezwungen, Gebetsriemen anzulegen und Turnübungen vor dem Hochaltar des Tempels zu machen, zum Beispiel in der Synagoge in der Seitenstettenstraße.“ In diesem Fall ist diese doppelt unglückliche Formulierung nicht der vielbenutzten wichtigen Quelle, dem Buch „Als die Bastionen fielen“ von G.E.R. Gedye, anzulasten. „Warum hat dieser Mann mich gerettet? Diese Frage beschäftigte Hansi sein Leben lang“, schreibt Anna Goldenberg, seine Enkelin. In ihrem Buch geht sie der Lebens- bzw. Überlebensgeschichte ihrer Großeltern mütterlicherseits nach. Beide wachsen in Wien aufund kommen aus assimilierten jüdischen, bürgerlichen Familien. „Im Haustor nimmt Hansi die Sakkotasche mit dem gelben Stern ab. Dann biegt er ums Eck auf die Taborstraße, steigt in die Straßenbahn und fährt zu Pepi.“ Es ist der 28. September 1942. Schon ein Jahr trägt Hansi Busztin, der Großvater von Anna Goldenberg, den „Stern“. Nun wird er ein „U-Boot“, aufgenommen, versorgt und versteckt von einem Bekannten der Familie, dem Kinderarzt Josef „Pepi“ Feldner. Seine Familie wird Hansi nie mehr wiedersehen. Anna Goldenbergs Großmutter Helga wird ein halbes Jahr später, gemeinsam mit ihrer Schwester Elisabeth und ihrer Mutter, ins KZ Theresienstadt deportiert. Anna Goldenberg recherchiert penibel, um ihre Familiengeschichte zu rekonstruieren. Dabei stößt sie auch auf die Täterseite, etwa auf Arisierungsakten des Geschäftes ihrer Urgroßeltern. Diese „bringen mich dem Täter nahe, sehr nahe“, schreibt sie. „Ein halbes Jahr lang fertigte er sorgfältig Listen an, durchforstete Warenlager, schrieb Briefe, errechnete Bilanzen.“ Und dann folgt ein Satz, der die Ungeheuerlichkeit dieses Vorgehens benennt: „Damit hat dieser Mensch Pflicht, „Europa“ zu besingen? Und verfassen Verweigerer dann zwangsläufig einen „Abgesang“? — Eher scheint es darum zu gehen (und auch dem Autor wichtig zu sein) zu zeigen, dass das, was sich als in die Katastrophe führend erwiesen hat, verändert gehörte und die Einsichtigen nicht mit aller Gewalt daran gehindert werden sollten. Oder gar mit Begeisterung der Status Quo Ante wiederhergestellt werden darf. Weil das nur alles verschlechtert und schreckliche D£javus produziert. Das ist Sebastian Vogt mit dieser, ich wiederhole mich, märchenhaften Erzählung gut gelungen. Ob man darum von einem „Meisterwerk“ schreiben muss, wie von Michael Scharang am Buchrücken zu lesen ist, bleibe dahingestellt. Karl Wimmler Sebastian Vogt, Zwei Brüder. Eine Erzählung. Wien: Sisyphus 2018. 182 S. € 14,80 Neu sind die Zitate aus zwei unveröffentlichten Manuskripten von Hertha Gerstmann und Hans Robert Fliegel, die sich in der Exilbibliothek im Literaturhaus befinden. Der im „Dank“ erwähnte „Michael Bunzl, Wien-Museum“ ist sonst als Matti Bunzl bekannt. Es fallt schwer zu glauben, dass Imogena Doderer, die in der ZIB 2 das Buch empfahl, und der Rezensent der „Presse“ dieses Buch gelesen haben. EA. Manfred Flügge: Stadt ohne Seele. Wien 1938. Berlin: Aufbau Verlag 2018. 479 S. € 25,70 meine Familie zerstört, und ich kann das heute nachlesen.“ Wie nahe Anna Goldenberg die Recherche zu ihrer Familie geht, kommt immer wieder zum Vorschein. Nachdem ihr Urgroßvater aus „rassischen“ Gründen seine Stelle als Polizeiarzt verliert, wird der Familie ihrer Großmutter Helga die Wohnung im Gemeindebau gekündigt. Der Urgroßvater glaubt an ein schnelles Ende des Nazispuks und versucht mit dem Hinweis, er sei kriegsgeschädigter Frontkämpfer des 1. Weltkriegs und Polizeisanitätsrat- in Klammern setzt er „beurlaubt“ dazu —, eine Verschiebung der Kündigung zu erreichen. Die städtische Wohnhausverwaltung gewährt ihm keine Verlängerung der Räumungsfrist. Anna Goldenberg fragt sich: „Begann mein Urgroßvater jetzt zu November 2018 6/