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Björn Kuhligk Am Zaun von Melilla Rede zur Verleihung des Arno-Reinfrank-Literaturpreises in Speyer, 24. Oktober 2018 Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrte Jury, liebe Frau Koch, ich habe in den letzten zwei Jahren — ich arbeite derzeit an einem Roman - nur drei Gedichte geschrieben. Für das eine wurde mir viel Geld angeboten, das zweite entstand aus einer Gelegenheit und wollte geschrieben werden, das dritte schrieb ich als Widmungsgedicht zu einem runden Geburtstag. Gerade deshalb freue ich mich besonders, dass ich den Arno-Reinfrank-Literaturpreis für meine Gedichte erhalte. Ich lebe in meiner schriftstellerischen Tätigkeit von dem, was mir im Leben - nenne ich es Wirklichkeit — begegnet. Ich lebe in ihr, ich schreibe in ihr, ich bemühe mich darum, mich schreibend hineinzubohren, ohne die Oberfläche, also das, was man vielleicht als „auf beiden Beinen stehend“ oder „geerdet“ bezeichnet, zu verlassen. Eine Unmöglichkeit? Vielleicht. Ein Vierzeiler von Arno Reinfrank lautet: Sie stellen alles auf den Kopf— schicken Mord und Raub ins Vergessen. Hort man ihnen eine Weile zu, hat die Wurst den Metzger gefressen. Zwischen 5000 und 8000 Mark kostete es, wenn man mit Hilfe von Helfern aus der DDR in die BRD flüchten wollte. Damals wurden die Menschen, die eine solche Dienstleistung anboten, Fluchthelfer genannt. Heute heißen Fluchthelfer Schlepper, heute bedroht die dritte, vierte, fünfte Welt die erste, heute hat der Wohlstand, in dem wir leben, nichts mehr mit der Armut derer zu tun, die nicht hier leben. Es ist über fünf Jahre her, als ich begann, an einem Langgedicht über die Fluchtbewegungen Richtung Europa zu schreiben. Melilla, eine der beiden am Meer gelegenen spanischen Exklaven in Marokko, umgeben von einer sechs Meter hohen Zaunanlage, die weltweit als eine der effektivsten gilt, erschien mir dafür als der Ort, an dem sich alles bündelte. Ich vertiefte mich in das Ihema. Ich habe Seemeilen in Kilometer umgerechnet. Ich habe recherchiert, wie weit der Leuchtturm von der Südspitze Gibraltars seine Lichtbündel sendet. Ich habe stundenlang Reportagen gesehen. Ich habe mir immer wieder die Aufnahmen des Fotografen Julian Röder angeschen, die er in Melilla machte. Ich las jeden Zeitungsartikel, jede Reportage. Dann begann ich zu schreiben und merkte nach einer Weile, dass die Bilder, die ich entwarf, nicht meine eigenen waren, dass das Wissen, das ich mir angeeignet hatte, mich davon abhielt, mich tatsächlich auf das Ihema einzulassen. Ich schrieb, als könnte ich auch über jedes andere x-beliebige Thema schreiben. Ich hielt mir das, worüber ich schreiben wollte, vom Leib. Es war viel zu weit weg, erfahrungsleer. Es ist für meine Arbeit unabdingbar, dass ich schen, spüren oder erleben kann, worüber ich schreibe. Daraus entsteht langsam und stetig das, was nicht sichtbar ist, ein Erkennen der zu beschreibenden Dinge und deren Zusammenhänge, der Kern eines Textes. Ich habe weder Literaturwissenschaft studiert noch arbeite ich als nebenberuflicher Literaturkritiker, ich schreibe Literatur, das muss genügen, und gleichzeitig versperrt mir dieser Zustand mitunter den Blick von weit oben auf das große Ganze. Arno Reinfrank hat in der letzten Strophe seines Gedichts „das weißumrissene Quadrat“ geschrieben: Das Unsagbare kann auch der Poet nicht sagen, aber sagen kann er wohl, daß es unsagbar ist in dem Quadrat das weiß die Wissenschaft ihm offenhält. Ich bemühe mich, das Unsagbare, von dem Arno Reinfrank spricht, also auch das Sprachlos-Machende zur Sprache zu bringen und hoffe, dass es so gelingt, etwas offen zu halten, das zwischen Gedicht und Lesern einen Dialog entstehen lässt. Ich lese Ihnen nun aus Teilen meiner Notizen vor, die ich während meines Aufenthalts in Melilla machte. Diese Notizen, die keine andere Funktion hatten, als festzuhalten was war, strich ich so zusammen, dass nur noch vorhanden war, was in meinem Verständnis Material für Gedichte war. Notizen, die meinem Gedächtnis eine Stütze waren und den Fakten und dem Erlebten verpflichtet waren. Warum ich Ihnen aus meinen Notizen vorlese? Arno Reinfrank schrieb eine Poesie der Fakten, wie er es nannte, und ich erhalte heute einen Literaturpreis, der seinen Namen trägt. Die Dinge, die ich während dieser einwöchigen Recherchereise in Melilla und Marokko erlebte, wurden mir zu Fakten und daran möchte ich Sie teilhaben lassen: Am Morgen hole ich meinen roten Reisepass aus dem Rucksack und halte ihn bereit. Vor dem Sperrzaun drängeln sich vielleicht hundert Menschen. Als ich näher herantrete, schlägt ein Polizist mit seinem Schlagstock auf eine alte, gebückte Frau ein, die auf einem Skateboard zwei große Stoffballen transportiert. Er brüllt die Frau an. Die Menge weicht zurück. Ich halte den Pass hoch, schiebe mich durch die Menge. Der Polizist zieht mich zu sich, klopft mir auf die Schulter, sagt „Hola!“, und schiebt mich weiter. Ich drehe mich um, die Menge ist wieder an dem Gitter. Das Handy piept „Willkommen in Marokko“, die Uhrzeit wurde automatisch um eine Stunde zurückgestellt. Ich halte meinen Pass in der Hand. Ich gehe weiter. Fünfzig Meter bis Marokko, rechts und links blaulackierte Zäune, Stacheldraht, Schleuser, Schlepper, Schmuggler, Polizei, Militär. Vor dem Kontrollhäuschen hat sich eine lange Warteschlange gebildet. Drei, vier Kinder begleiten mich bettelnd. In der Nähe eines Polizisten gebe ich ihnen etwas Geld. Dicht hinter der Grenze warten mehrere Kinder mit Schubkarren und Einkaufswagen. Das Gebirge erhebt sich hinter Melilla, es ist allgegenwärtig. An manchem Morgen hängt dort eine Wolke fest. In der Nacht leuchtet die Stadt, und da, wo es dunkel ist, ist das Gebirge, der Monte Gourougou. Auf diesem Berg campieren tausende Afrikaner aus den Subsahara-Regionen und warten auf ihre Chance, den Februar 2019 5