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zueinander, weil sie anders gar nicht stehen können und dürfen. Die Beschäftigung mit Gedichten setzt im Schreiben und Denken eine Genauigkeit voraus. Eine Genauigkeit am Wort, an der Zeile, am Ganzen, und dem Bewusstsein darum, was Sprache vermag, welche Effekte sie erzielen kann und dass jedes Wort in einem Gedicht besten Falls diesen einen ihm zugewiesenen Platz hat — und auch dasss ich mich bei dem Verfassen dieses Satzes dafür entschieden habe, zwei Halbsätze zuvor dem sachlichen Gedicht einen maskulinen Artikel zu verpassen, obwohl es falsch ist. In einem der Gedichte Arno Reinfranks findet sich eine für mich wundersame Genauigkeit in nur zwei Zeilen, die mich in eine Landschaft stellt: Die dunkelblau durchnäfsten Wattefetzen der Regenwolken ziehen kühl und schwer Ich lasse mich von Gedichten in Landschaften stellen und begleiten. Gedichte sind gute Begleiter. Mitunter kommen sie jahrzehntelang mit und verändern sich. Während eines Workshops für Jugendliche, den ich vor einigen Jahren leitete, stand in einem der geschriebenen Gedichte die Zeile: „Die Pause zwischen Mund und Nase“. Leider verschwand sie bald wieder. Vielleicht fiel sie meiner Aufforderung „kill your darling!“ zum Opfer. „Die Pause zwischen Mund und Nase“. Ich war und bin fasziniert von dieser Zeile. Ich habe eine Ahnung von ihr, aber ich verstehe sie nicht. Ich muss in einem Gedicht nicht alles verstehen. Es geht auch niemand durch ein Museum für Gegenwartskunst und versteht alles. Es geht um ein Öffnen, Verstehen-Wollen, ein Hereinlassen, Herantasten, ein Denken, das womöglich anders funktioniert, als das eigene. Es geht mir darum, dass meine Gedichte verstanden werden, aber es geht mir auch um die Lücken, die Luft hineinlassen, um Irritation, um Widersprüche, um Widerstände, um das Unmögliche, warum auch nicht? „Gedichte sind zur Ruhe gekommene Unruhe“. Vielleicht ist dieser Satz von Reiner Kunze das Einfachste, Allgemeingültigste und gleichzeitig Genaueste, was sich über Gedichte nur sagen lässt. Björn Kuhligk, geb. 1975 in Berlin, wo er lebt und arbeitet, wurde für sein Langgedicht „Die Sprache von Gibraltar“ (erschienen 2016 im Hanser Verlag, Berlin) mit dem Arno-Reinfrank-Literaturpreis 2018 ausgezeichnet. Dieser Preis, gestiftet von Jeanette Koch-Reinfrank, der Witwe Arno Reinfranks, wird alle drei Jahre in Speyer an deutschsprachige SchrifistellerInnen vergeben, die „im Sinne des Werks von Arno Reinfrank den Idealen des Humanismus und der Aufklärung verpflichtet sind beziehungsweise sich literarisch mit den Prozessen und Phänomen von Wissenschaft und Technik auseinandersetzen.“ Björn Kuhligk. Foto: Achim Wagner „Die Sprache von Gibraltar“ überschrieb der Berliner Autor Björn Kuhligk sein Langgedicht — eindringliche Verse, in denen er sich dem Schicksal der Flüchtlinge in der spanischen Exklave Melilla annähert. Für diese Poesie der Fakten wurde der Berliner Autor mit dem mit 5.000 Euro dotierten Arno-Reinfrank-Literaturpreis ausgezeichnet. Zur feierlichen Preisverleihung am 24. Oktober 2018 lud Speyers Oberbürgermeister Hansjörg Eger in den Historischen Ratssaal ein. Die Laudatio hielt Michael Au, Literaturreferent des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur Rheinland-Pfalz. Aus Wien kam Konstantin Kaiser, um als Mitherausgeber die druckfrische Anthologie „Die Zwitschermaschine. Ausgewählte Gedichte von Arno Reinfrank“ vorzustellen. Arno Reinfrank war - vgl. K. Kaisers Nachruf „Das Weiche und das Harte - Arno Reinfrank (1934 — 2001)* in ZW Nr. 4/2001, S. 5 — der Theodor Kramer Gesellschaft und ihrer Zeitschrift durch große gemeinsame Interessen verbunden. Reinfrank beabsichtigte eine Zeit lang, sich in Wien niederzulassen; der Vater seiner Frau Jeanette war aus Wien nach England geflüchtet. Reinfrank fungierte in London lange Jahre als Sekretär des PE.N.-Zentrums deutschsprachiger Schriftsteller im Ausland, der Nachfolgeorganisation des deutschen Exil-PE.N. und des Free Austrian PE.N.. Vor allem aber war Reinfrank ein großartiger Lyriker. Im Vorwort zu der von ihm und Jeanette Koch-Reinfrank besorgten Auswahl schriebt Kaiser: Das Eigentliche und sein Jargon waren ihm zuwider. Er wollte keinem hochgeistigen Bunde angehören, in dem sich ein Männervolk zumeist wechselseitig Authentizitäts-Ausweise ausstellt. Für ihn war das wie Bierdunst von schlecht gescheuerten Dielen. Wobei diese Authentizität im Nachkriegsdeutschland, im postfaschistischen Europa eine lügenhaft zusammengeschusterte war ... [...] Arnos Gedichte erinnern uns eindringlich an unsere Nachkriegsgeschichte, und dies gerade darum, weil er diese Geschichte nicht durch eine künstliche Mauer von ihrer Vorgeschichte trennt. Für ihn ging es in seiner Poesie nicht darum, Geschehenes als Vergangenes zu statuieren, dem Fühlen und Wahrnehmen Zeitgrenzen aufzuerlegen. Ihm erzählten selbst die Flüsse und Wege, die Straßen und Feldraine ihre oft jahrhundertelangen und -alten Geschichten. Februar 2019 7/