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Verena Dürr Jemanden aufzuwecken ist eine Art Gewalttat, die man nur in Extremfallen begehen sollte — so Ruth Kliiger in ihrem Gedicht Zwei Schlaflieder. Demnach war ich in letzter Zeit viele Male Gewalttäterin, denn die Winternotquartiere der Stadt Wien, verwaltet durch die Hilfsorganisationen, schließen um neun Uhr ihre Pforten und öffnen erst wieder am frühen Abend. Tagsüber treffen wir die Aufgeweckten in den Bahnhöfen oder in den Magistraten; es kreuzen sich unsere Blicke, wenn sie uns am Eingang der Supermärkte kleine Pappbecher entgegen halten oder uns kniend, mit offenen Händen am Ende einer Rolltreppe empfangen. Manchmal holen sie den geraubten Schlafauch bei einer Straßenbahnfahrt von Endstation zu Endstation nach. Sie, die Obdach- oder Wohnungslosen. Die karitativen Kampagnen zur Sichtbarmachung jener heterogenen sozialen Randeruppe meinen natürlich eine andere Sichtbarkeit, als jener Eindruck, der uns bei solchen Begegnungen mitunter das Gefühl gibt, unter Zugzwang zu stehen — wenn wir z.B. einem Menschen zum wiederholten Male bedingungslos 50 Cent schenken. Mit 50 Cent lässt sich kaum ein Bedürfnis stillen. Das wird deutlich, wenn wir die Schwelle des „Bitte/Danke“ überschreiten und uns ein „Wie geht's?“ über die Lippen kommt. Der Mensch ist unebenes Gelände und betreten wir es und ins Gespräch ein, enthüllt sich uns oft eine Vielzahl unerfüllter Wünsche. Davon nicht überwältigt zu werden, sich aber auch nicht gleich ganz vom Menschen wieder abzuwenden - ist eine Frage der Übung, wie ich es bei meiner Arbeit im Notquartier erfahre. Sich mit Menschen, denen es an Grundlegendem mangelt, auseinanderzusetzen, kann anstrengen — man denke nur an seine eigene Bedürftigkeit oder die der Freund*innen beim letzten Arbeitsplatzverlust oder Beziehungsende. Wir müssen in solchen Unterhaltungen nicht ständig brillieren, doch dies ist eben die Natur des Übens - je öfter wir es versuchen, desto besser werden wir darin und die Verbesserung des gesellschaftlichen Miteinanders ist jedenfalls das Antidot gegen eine Regierungspolitik, deren Strategie es ist verschiedene, vorzugsweise sozial schlechter gestellte Bevölkerungsgruppen z.B. durch gekürzte Sozialleistungen gegeneinander auszuspielen. Doch ob österreichische Staatsbiirger*innen, Kriegsgefliichtete oder Menschen aus ärmeren EU-Staaten, sie alle sitzen gleichermaßen hier in Österreich bei Minus-Graden auf der Straße. Je nach politischer Agenda werden sie als Notreisende, Migranten oder eben Obdach- oder Wohnungslose unterschiedlich bezeichnet, um Verantwortung zu übernehmen oder auch abzugeben. Die Winternothilfe ist Ländersache. In Wien gibt es ein recht gut ausgestattetes Paket an Angeboten, während andere Bundesländer kaum ein Interesse daran zu haben scheinen, ausreichend Notunterbringungen zu schaffen. Stattdessen wird mit Platzverboten oder Klagen wegen „ilegalem Campierens“ gegen eine verhältnismäßig überschaubare Zahl von Gemeinten vorgegangen — Strategien wie im autokratisch regierten Nachbarland Ungarn, wo parallel zum Abbau sozialer Hilfeleistung die totale Verdrängung von Armut radikal und konsequent zu Ende gedacht und Obdachlosigkeitals Verbrechen unter Strafe gestellt ist. „Aufder Straße in Österreich leben, ist halt immer noch besser, als auf der Straße in meinem Heimatland.“ So hat es ein Notnächtiger mir gegenüber einmal auf den Punkt gebracht und das bringt uns zu einem weiteren Punkt. Menschen, die in 8 _ ZWISCHENWELT Notquartieren nächtigen, leben immer noch prekär — wir treffen sie tagsüber vor den Einkaufszentren und in den Parks. Dass die Notquartiere derzeit Notwendigkeit sind, ist unbestritten, aber wir dürfen nicht vergessen, was mit ihnen zur Verfügung steht, ist das Mindeste - Schlafen, Essen, medizinische Versorgung im Notfall und auf begrenzte Zeit. Wieso kommt es in einer Wohlstandsgesellschaft wie der unseren überhaupt zu diesem Notfall? - frage ich, die freischaffende Autorin und saisonal angestellte Sozialbetreuerin am Abend in meinem Bett, in einer Wohnung mit befristetem Mietvertrag. Trotz allem privaten und zivilgesellschaftlichen Engagement sind es letztlich die politischen Entscheidungsträger*innen, die ihrer Aufgabe nachkommen müssen. Soziale Sicherheit ist ein Menschenrecht und welche Aufgabe, wenn nicht die Menschenrechte, und zwar für alle Menschen, zu gewährleisten, wäre denn die der Politik, die wir uns zum Zwecke eines friedlichen Miteinanders erwählen? Abgesehen davon, dass ich mir eine Welt wünsche, in der es sie gar nicht geben müsste, hat die Winternothilfe dennoch ein schr menschliches Antlitz. Dank jenen, die in den Notquartieren arbeiten genauso, wie jenen, die in ihnen nächtigen. Letztlich üben wir uns dort alle - freiwillig wie unfreiwillig — in der Kunst des Zusammenlebens und lernen uns dabei, im Verhältnis zu Anderen, selbst besser kennen — was sonst, wäre der Sinn im Leben? Mein Weg zur Arbeit führt mich über das Gelände des OttoWagner-Spitals — vorbei am Denkmal für die Kinder, die als sozial minderwertig befunden und in der „Führsorgeanstalt“ Am Spiegelgrund unter dem NS-Regime ermordet wurden. Ein Lichtermeer vor dem Jugendstiltheater macht sichtbar, was nicht vergessen werden soll. Ich begegne einem Notnächtiger, der gerade seine wenige Habe in einem Trolli den Schotterweg die Anhöhe hinauf bugsiert. Er geht langsam. Erst will ich ihn überholen, doch dann passe ich mein Schritttempo an das seine an und wir wechseln ein paar Worte. Gemeinsam erreichen wir das Notquartier, wünschen uns ein „gute Nacht“, und dann verschwindet der Mann durch die schwere Eingangstür. Hier endet die Geschichte auch schon wieder, denn es gibt auch ein Menschenrecht auf Privatsphäre. Ruth Klügers Gedicht beginnt so: Was man träumt, ist vielleicht das einzig wirkliche Eigentum eines Menschen. In einem der reichsten Länder der Welt sollte es doch möglich sein, dass alle seine Bewohner*innen ihre Träume in Ruhe zu Ende träumen können. In erster Version verfasst fiir Volksstimme (Wien) zum Thema: Stille Nacht — Sichtbarkeit sozialer Randgruppen. Verena Diirr lebt und arbeitet als Autorin und Sozialbetreuerin in Wien. Im April wird ihr Hörspiel „Herr im Garten“ beim Bayerischen Rundfunk zu hören sein, in dem sie sich mit dem Selbstverständnis eines bedeutenden Protagonisten der internationalen Waffenindustrie auseinandersetzt.