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immer daran, wie ich mich staunend umschaute und Hunderte von Sternen erblickte, den leuchtenden Halbmond sah und ganz ergriffen war von dem ungewohnten Gefühl der Dunkelheit und dem funkelnden, klaren Nachthimmel. Trotz der Gewehre und Stiefel machte die Dunkelheit, durchsetzt von tausenden Sternen, den lebhaftesten Eindruck auf mich. Als Kind einer stets um mich besorgten und behütenden europäischen Familie hatte ich mich bis dahin niemals um diese Uhrzeit draußen aufhalten dürfen. Die kleine Gruppe wurde durch die stillen und dunklen Straßen getrieben, um schließlich den Hauptplatz zu erreichen. Und, oh, was für ein trauriger Anblick bot sich uns dar! Hier waren — viele noch in ihren Nachthemden — mehrere Dutzend Menschen: jung, alt, teilweise auch sehr alt. Für die Achtjährige nahm das Abenteuergefühl dort abrupt ein Ende. Die Leute, die auf dem Platz versammelt waren, schauten zu jämmerlich, zu verwirrt aus, als dass die kindlichen und romantischen Fantasievorstellungen anhalten konnten. „Warum sind wir hier?“ „Wohin bringt ihr uns?“ „Es werden Lastwagen kommen und dann werden wir euch Juden alle in der Donau entsorgen... “, sagte einer der bewaffneten Männer und erntete schallendes Gelächter. Die klägliche Gruppe der Zusammengetriebenen erschauerte als ganze. Und tatsächlich fuhren LKWs vor - eigentlich Kohletransporter. Die Versammelten wurden auf die Ladeflächen getrieben. Die Achtjährige musste wieder das flüchtige Abenteuergefühl, ein makabres Gefühl, unterdrücken. Es schien, als würde der offene Transporter durch den Himmel fliegen... die vorbeirauschende Luft... Abrupt wurde die Gruppe gemäß Anweisung am Wiener Hauptbahnhof abgesetzt. „Sie müssen in den nächsten Zug steigen, der zur Grenze fährt. Wer sich umdreht, wird erschossen!“ „Aber sie werden uns nicht in den Zug lassen... wir haben doch keine Visa, kein Geld...“, protestierte die zusammengedrängte Gruppe. „Wir haben unsere Anweisungen... Es dürfen keine Juden mehr in Mödling sein, wenn die Nacht um ist...“ Da stockt meine Erinnerung. Nur flüchtige Eindrücke einer endlosen Nacht, kalt und elend, die in einem rosafarbenen kühlen Morgen endet, blieben mir. Aber plötzlich, eine Durchsage aus heiterem Himmel. „Ihr könnt jetzt alle zurück nach Hause.“ „Macht schnell!“ „Der Inhalt der Umschläge wird Ihnen bei Vorlage der Quittung zurückgegeben.“ Verwundertes, ungläubiges Gemurmel und dann eine Woge der Erleichterung... Die Gruppe löste sich schnell auf. Ich erinnere mich nur an eine schlaftrunkene Taxifahrt nach Hause. „Es war die Laune eines hohen betrunkenen Offiziers“, die Erklärung sickerte ein paar Tage später durch. Er wollte am Morgen ein judenfreies Mödling haben. Irgendwann war er scheinbar nüchtern geworden. Für mich, als kleines Kind und später als Flüchtling in London, rückte der Vorfall weit weg und lag wie hinter einem Nebel. Und doch kam die lebendige Erinnerung periodisch immer wieder hoch. Im kriegsgebeutelten England wurden die Gefühle und Gedanken, die mit Österreich zu tun hatten, bald durch andere verdrängt. Dringenderes zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Von meinen Eltern und meiner Schwester getrennt, konzentrierte ich mich darauf, neue Freunde zu finden, eine neue Sprache zu lernen und mit den unzähligen Widrigkeiten des Überlebens fertig zu werden. In der Schule wurden Gasmasken verteilt und wir Schulkinder waren mehr darauf bedacht, damit gut auszuschen, als an unausgesprochene Gefahren zu denken. Ein Verlangen nach Sicherheit und danach, etwas zu erreichen, war bestimmend für die Sehnsüchte meiner Kindheit. Als ich mit meiner Familie 1940 in Amerika wieder vereint war, maß ich meinen österreichischen Erfahrungen keine allzu große Bedeutung bei. Wichtiger für mich war es, mich meines neu erworbenen Status als Amerikanerin zu erfreuen. Wenn ich an meine Erfahrungen in Mödling zurückdenke, muss ich die heilende Kraft der Zeit anerkennen. Man bleibt sicherlich nicht für immer Gefangene schmerzlicher Erinnerungen. Aus dem amerikanischen Englisch von Marlene Gallner und David Hellbrück Gloria Gray Katz, geborene Gerda Sukman, geb. 9. April 1930 in Wien, flüchtete als Kind aus Österreich nach England und ließ sich schließlich in den USA nieder. Sie studierte Erziehungswissenschaften am Columbia Teacher College und arbeitete die meiste Zeit ihres Lebens als Erzieherin und als Beamtin am New Yorker Bundesgericht. In ihren letzten Lebensjahren arbeitete sie an einer Essayammlung über ihre Familie im Holocaust. Gloria Katz verstarb am 25. Dezember 2017 in Oakland, Kalifornien. — Der Erinnerungsbericht von Gloria Katz erschien zuerst am 31. Mai 2016 auf „JewishCurrenis“. Für die Genehmigung der Übersetzung danken wir der Familie Katz. Eine zu den von Gloria Gray Katz geschilderten Ereignissen möglicherweise passende Notiz findet sich in dem Buch „Ausgelöscht. Vom Leben der Juden in Mödling“, herausgegeben von Roland Burger, Franz M. Rinner und Franz R. Strobl, das 1988 in der Edition Umbruch (Mödling) erschienen ist. Da steht, S. 128: Noch im März 1938 wurde „eine allgemeine Judenhatz angeordnet, bei der auf blutigen Fleischerkarren die ortsansässigen Semiten zum Wiener Bahnhof gebracht werden sollten ... “, berichtet Albert Drach lin: Z.Z. das ist die Zwischenzeit. Ein Protokoll, 1968, S. 216]. Doch man mufste damals unverrichteter Dinge wieder nach Mödling zurückkehren — die „Judenhatz“ hatte voreilig stattgefunden — da für den Transport in ein KZ „kein Transportwagen auf dem Bahnhof bereitstand ...“ Um jedoch aus der mifSgliickten Aktion noch eine „Hetz“ zu machen, „... ließ man auf dem durch die Verhältnisse erzwungenen Rückweg ein paar hübsche Mädchen in die noch Vorfrühlings halber kühlen Teiche am Rand der Strafe springen, wobei man ihnen nicht gestattete, sich ihrer Kleider vorher zu entledigen, es sei denn, daß sie sich auch der Wäsche entledigen wollten ... “, führt Albert Drach in einem Roman aus. Februar 2019 17