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verbotene Einsatz für Fremde, wo zuvor” menschlicher Anstand, christliche Nächstenliebe und Gastfreundschaft die Haltung und das Verhalten prägten. Gleichzeitig können es aber auch Lust und Neugier sein, Scherz und Flirt, welche die Grenzen zum Fremden und zu den Fremden aufweichen, noch dazu in einer Salzburger Gegend, in der lange schon „Fremdenzimmer“ vermietet wurden und man auch vom Fremdenverkehr gelebt hatte — bevor der Nationalsozialismus alles Fremde ausgrenzte und dämonisierte. Was „das Selbstverständliche tun“ im bäuerlichen Kontext für Maria Etzer bedeutete, ist treffend auf einem Foto von 1943 zu sehen. Die Bergbäuerin sitzt dichtgedrängt mit allen, die zu ihrem Hausstand und Betrieb gehören, auf der Hausbank: mit ihren Ziehkindern, den Enkellnnen, mit der Ukrainerin Maruschka und dem Franzosen Georges. So sitzen, nach Geschlechtern getrennt, die Betriebsführerin und ihre LandarbeiterInnen zusammen, die Erwachsenen und die Kinder, die Inländer und die Ausländer. „Das Selbstverständliche tun“, also gemeinsam aufeiner Bank zu sitzen, ist eigentlich nichts Besonderes, wenn nicht der Nationalsozialismus wäre, die Nazis einen Krieg vom Zaum gebrochen hätten und plötzlich die Fremden alle Feinde sein sollten, und das Miteinander-Reden, Gemeinsam-Essen und sonst noch alles Mögliche verboten wäre. Der Einsatz für einen demokratischen und freien Staat, rückblickend als Widerstand definiert, beginnt dort, wo man/frau sich spontan oder gezielt über menschenverachtende Verbote hinwegsetzt und die Fremden als Menschen betrachtet und behandelt. Dieses widerständige Verhalten nenne ich Cornelia Klingers” Begrifflichkeit folgend „Lebenssorge“: Lebenssorge als eine Form widerständiger Praxis im Nationalsozialismus betrachte ich als weiblich konnotierte Fähigkeit und Bereitschaft, Leben zu ermöglichen, weiterzugeben und unter allen Umständen ein Überleben zu sichern, auch quer zu den ideologischen Konzepten von Religion und Politik, Freund und Feind, Rasse oder Klasse. Lebenssorge gerade auch für die „Fremden“ unterscheidet sie von der traditionell ebenfalls weiblich konnotierten Sorge nur für die Eigenen, die eigene Familie. Und weiter: Lebenssorge fängt dort an, wo eine (einer) sich selbst Mitgefühl erlaubt, obwohl es von einem totalitären Regime verboten ist, ja wo eine (einer) sich überhaupt erlaubt zu fühlen, vielleicht auch ein Begehren, statt im Dienst todbringender Normen und Gesetze zu funktionieren. Der Blick der Liebe im weitesten Sinn gilt einem Individuum, einem Menschen, der oder die mir im Jetzt als besonders und einzigartig nahekommt, zum Nächsten wird— auch wenn ihn oder sie eine willkürlich gesetzte Norm als minderen Menschen definiert, dem kein Ansehen, keine Sorge und Fürsorge zusteht — und auch keine Sorglosigkeit: keine Freizeit, kein Fest [...], kein sexuelles Glück, kein Leben, kein Überleben.’ Lebenssorge, leibnah, konkret und oft als „weibliche Naturressource“ verstanden, scheint ausschließlich in den Privatbereich zu gehören. Das stimmt nicht einmal für Friedenszeiten, ist die Sorgearbeit doch die Basis jeder Ökonomie, selbst wenn sie nicht über den Markt läuft. Das hat schon Hannah Arendt in ihrem Werk „Vita activa“ konzeptiv gefasst und „work in basics“ genannt°*. Die feministische Theoriearbeit der letzten Jahre, z.B. Cornelia Klinger”, verwendet den Sorge-Begriff ebenfalls politisch, zur Kritik geschlechtlicher Arbeitsteilungen im Kapitalismus. Lebenssorge ist also auch in Friedenszeiten nötig und allgegenwärtig; im Kontext eines totalitären Regimes wird sie im Anlassfall zu widerständiger Praxis — und ist damit qualitativ mehr und etwas Anderes als bloße Dissidenz oder nonkonformes Verhalten. Unabhängig davon, ob es um menschliche Hilfeleistungen ging oder auch intime Beziehungen: Den Fremden nicht als kollektiven Feind, sondern als einzelnen, vielleicht auch begehrenswerten Menschen und Mann zu betrachten und zu behandeln war zur NS-Zeit hochriskant, daher nicht nur „Privatsache“, als die es in der Ablehnung von Opferfürsorgeansuchen betrachtet wurde: „Ihre Handlungsweise liegt rein in der privaten Sphäre und waren hierfür auch keine politischen Gründe maßgebend ...“?? In unmenschlichen Regimen sich menschlich zu verhalten war und ist ein politischer Akt des Ungehorsams, ja des Gesetzesbruchs. Was z.B. in Goldegg im Pongau für diejenigen Frauen gilt, welche Deserteure unterstützt haben”, kann in gleicher Weise für Maria Etzer in Anspruch genommen werden: Sie „bewiesen den Mut, in schwierigen Situationen ihrem eigenen Gewissen zu folgen. Und sie haben bewiesen, dass es sogar in blutigen Diktaturen Möglichkeiten gibt, Entscheidungsspielräume zu nutzen, um menschlich zu handeln.““ Der moralisch begründete Widerstand als Sorge und Fürsorge, als Festhalten an der persönlichen Verantwortung trotz Repression, muss mit dem politischen Widerstand im engeren Sinn verknüpft werden. Diese Verknüpfung stellte der Nationalsozialismus her: Lebenssorge für die „Fremden“ betrachtete er als widersetzliches Verhalten an der „Heimatfront“, als „Zersetzung der Wehrkraft“ und damit als politisches Delikt, die inhaftierten Frauen zählten zu den politischen Gefangenen. Die Republik Österreich ignorierte aber diese Verknüpfung, weil man(n) diese spezifische Art von Widerständigkeit nicht konzeptiv fassen konnte oder wollte. Es muss für die betroffenen Frauen furchtbar gewesen sein, dass ihre aufrechte Menschlichkeit, ihre Handlungen aus Zivilcourage unter großer Gefahr für sie selbst und ihre Angehörigen, dass die Jahre ihrer Haft und Zwangsarbeit nach 1945 nichts mehr gelten sollten, wie man auch Maria Etzer ablehnend schrieb: „Die Inhaftierung stellt zweifellos ein hartes Schicksal dar, ist aber nicht nach dem OFG/47 als ‚politische‘ Maßregelung zu werten.“ Und: ,,Dieses freundschaftliche Verhalten einem Kriegsgefangenen gegeniiber kann keineswegs als ein Kampf fiir die Wiedererrichtung eines freien, demokratischen Osterreichs bezeichnet werden.“*! Maria Etzer starb 1960, ohne jemals von der Republik entschädigt oder entschuldet worden zu sein. Erst etwa 30 Jahre nach ihrem Tod gab es für alle NS-Inhaftierten auf Antrag eine Haftentschädigung, und erst fast 50 Jahre nach ihrem Tod, 2009, wurde im Aufhebungs- und Rehabilitationsgesetz $1 Abs. 2 festgelegt, dass „alle Urteile nach NS-Vorschriften zwischen 12. März 1938 und 8. Mai 1945 rückwirkend als nicht erfolgt“ zu gelten haben. Das betrifft auch „die Anordnungen zu Zwangssterilisierungen, Schwangerschaftsabbrüchen sowie verurteilende Entscheidungen wegen gleichgeschlechtlicher Handlungen“. Auch Deserteure werden unter $4 Abs 1 genannt und rehabilitiert. Ausdrücklich zu nennen vergessen hat man jedoch die Opferkategorie derjenigen Frauen, die wegen „verbotenen Umgangs“ oder „Geschlechtsverkehrsverbrechen“ verurteilt bzw. verfolgt wurden. Ob das Aufhebungs- und Rehabilitierungsgesetz 2009 für all diese Frauen ebenfalls gilt, blieb unklar. Nach Erscheinen meines Buches im April 2018 suchte Brigitte Menne als Enkelin von Maria Etzer am 12. Juni 2018 um Rehabilitierung ihrer Großmutter an. Mit Beschluss vom 18. September 2018 wurde vom Landesgericht Wien das Sondergetichtsurteil über Maria Etzer vom 24. März 1943 aufgehoben, Februar 2019 25