OCR
Die Preisträgerin: Lore Segal Der Vorstand der Theodor Kramer Gesellschaft würdigte 2018 Lore Segal mit dem Theodor Kramer Preis. Die kurze Begründung lautete: Nicht selbstverständlich war es, dass Sie schon früh das Bedürfnis und die Notwendigkeit verspürten, englischsprachigen Menschen das Ausmaß von Antisemitismus, Ausgrenzung und Verfolgung unter dem nationalsozialistischen Regime, sowie ihre Erfahrungen von Flucht und Exil verständlich zu machen. So schildern Sie die Geschichte eines den Umständen trotzenden Mädchens, das seine Eindrücke und Gedanken offen und schonungslos zur Sprache bringt und sein Leben selbst in die Hand zu nehmen strebt. Ihr lakonischer Humor, ihr oft selbstironisierender Erzählstil vermögen den widersprüchlichen Regungen gerecht zu werden, die der Erfahrung von Fremdheit und dem Ringen um Identität entspringen. Sie betrachten aber auch die Verhältnisse in dem Land, in dem Sie letztlich Fuß gefasst haben mit der nicht nachlassenden Verwunderung, die nur dem gegeben ist, der die Dinge auch von der Seite her anschauen kann. Im Zwischenbereich von Komik und Tragik entfaltet sich die beeindruckende Wirkung Ihrer Schriften. Lore Segal wurde am 9. März 1928 als Tochter der Pianistin Franzi (Stern) Groszmann und des Buchhalters Ignatz Groszmann in Wien geboren. Im Dezember 1938 konnte sie mit der Identifikationsnummer 152 mit dem ersten sogenannten Kindertransport nach Großbritannien flüchten. Die folgenden Jahre lebte sie bei insgesamt fünf Pflegefamilien, da ihre Eltern, die im März 1939 mit einem domestic permit (als Hausangestellte) nach England ausreisen durften, sie nicht zu sich nehmen konnten. Bereits kurz nach ihrer Ankunft begann sie ihre Erfahrungen, damals noch auf Deutsch, niederzuschreiben. Für Lore Segal selbst war dies der Grundstein ihres schriftstellerischen Werdegangs. Nach Beendigung ihres Studiums der englischen Literatur an der University of London, das ihr nach Kriegsende durch ein Stipendium ermöglicht wurde, übersiedelte sie 1948 zu ihrer Mutter, ihren Großeltern und ihrem Onkel Paul Stern in die Dominikanische Republik. Ihr Vater war bereits 1945 wenige Tage vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges an den Folgen mehrerer Schlaganfälle verstorben. Nach dem Tod des Großvaters zog die verbliebene Familie 1951 nach New York. In New York konnte Lore Segal in verschiedenen Zeitschriften Kurzgeschichten veröffentlichen. 1961 wurde sie vom Magazin The New Yorker mit einer Kurzgeschichtenserie über die Kindheitserfahrungen ihres Exils beauftragt, die 1964 unter dem Titel Other Peoples Houses (deutsch: Wo andere Leute wohnen) als Buch erschien. 1965 erhielt sie das renommierte GuggenheimStipendium. Neben ihrer literarischen Tätigkeit arbeitete sie zunächst unter anderem als Verkäuferin und Rezeptionistin, ab 1968 lehrte sie an der Columbia University kreatives Schreiben. Nach dem frühen Tod ihres Ehemanns David Segal 1970 setzte sie diese Tätigkeit als alleinerzichende Mutter zweier Kinder am Bennington College und am Sarah Lawrence College fort. Es folgten weitere Anstellungen, etwa an der University of Illinois in Chicago und an der Ohio State University, wo sie 1996 emeritierte. Nach der Veröffentlichung ihrer Novelle Zueinella im Jahr 1976 erschien 1985 ihr zweiter autobiografisch geprägter Roman Her First American (deutsch: Ihr erster Amerikaner, 1996), dessen hohe literarische Qualität in vielen Rezensionen hervorgehoben wurde; so etwa von der Kritikerin Carolyn Kitzer in der New York Times: „Lore Segal may have come closer than anyone to writing the great American novel.“ Lore Segal zeichnete sich auch als Kinderbuchautorin und Übersetzerin, so von Märchen der Gebrüder Grimm, aus. 2007 veröffentlichte sie den Kurzgeschichtenband Shakespeares Kitchen und wurde für den Pulitzer Preis nominiert. Dieser Band ist die erweiterte Version einer Kurzgeschichtensammlung, die unter dem Titel Die dünne Schicht Geborgenheit bereits 2004 auf Deutsch erschien. 2013 erschien ihr Roman Halfthe Kingdom. Lore Segal und ihre Mutter Franzi Groszmann wirkten in zwei Dokumentarfilmen über die Kindertransporte mit: My Knees Were Jumping. Remembering the Kindertransport (1999) von Melissa Hacker und Into the Arms of Strangers. Stories of the Kindertransport (2000) von Mark Jonathan Harris, die für einen Oscar nominiert bzw. mit einem Oscar ausgezeichnet wurden. Februar 2019 31