OCR
lernten Sie Julia Alvarez Anfang der siebziger Jahre kennen und schätzen. Julia Alvarez — deren Glückwünsche ich an dieser Stelle ausrichten darf - beschreibt folgendermaßen, was sie von Ihnen lernte: Als ich Other People’s Houses /as, wurde mir klar, was Langston Hughes meinte, als er sagte, „I Too Sing America“. Lore gehört zu den Schriftstellerinnen, die eine integrierende Wirkung auf die USamerikanische Literatur hatten, und diese für verschiedene Ethnien, Einwandererinnen und Frauen öffneten. Diese magischen Bücher machten den Verlagen klar, dass all diese Stimmen ebenfalls zur USamerikanischen Literatur gehörten und nicht nur Gegenstand soziologischer Studien waren. Ich weiß nicht, wie oft ich Other People’s Houses gelesen habe. Was Her First American betrifft, war Lore ihrer Zeit voraus. Sie verdichtete die Beziehung zwischen Volksgruppen, indem sie von einem schwarz-weiß Schema abging und Menschen in ihrer ganzen Vielschichtigkeit darstellte. Sie sprach vor 40 Jahren Themen an, die uns heutzutage ins Gesicht starren. Das in dem Werk Her First American angesprochene Thema des Außenseitertums ruft 7he Origin of Others, die Essaysammlung der afroamerikanischen Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison ins Gedächtnis. Darin beschreibt Morrison, dass der Ursprung des Anderen eigentlich in jedem Menschen selbst liegt. „Ihe foreigner inside oneself“, so Morrison — den Fremden in mir drinnen — wehre ich ab, weil ich mich bedroht fühle oder weil ich befürchte, meine Machtposition oder an Materiellem zu verlieren. Aber in mir drinnen wohnt dennoch auch ein Obdachloser, ein alter Mensch, ein Mensch mit Behinderung, ein Mensch anderer Religion und Hautfarbe, der Außenseiter, der nicht zu einer Gemeinschaft gehört. Diese Sicht auf den anderen haben Sie mit Her First American meisterhaft freigelegt und wir können aus Ihrem Werk allgemein gültige Lehren ziehen. Dieser Sicht bedient sich eine Erinnerungskultur, die nicht nur den Blick auf die Vergangenheit richtet, sondern auch in die Zukunft schaut. Holocaust und Exil sind also nicht etwas, das wie aus der Geschichte herausgebrochen erscheint, sondern sie stehen in aktivem Bezug zur Gegenwart und Zukunft. Ihre Werke verdeutlichen, dass man nicht den aus ihrer Heimat aufgrund von Krieg und Verfolgung Geflüchteten Schuld für unsere unruhige Zeit geben darf, sondern aktiv zu ihrer Integration beitragen muss. Ihre Werke mahnen uns, das zu verhindern, was Iheodor Kramer in seinem Gedicht „Wer läutet draußen an der Tür?“ beschreibt Wer läutet draußen an der Tür, kaum dass es sich erhellt? Ich geh schon, Schatz. Der Bub hat nur die Semmeln hingestellt. Wer läutet draußen an der Tür? Bleib nur; ich geh, mein Kind. Es war ein Mann, der fragte an beim Nachbarn, wer wir sind. Wer läutet draußen an der Tür? Lass ruhig die Wanne voll. Die Post war da, der Brief ist nicht dabei, der kommen soll. 34 ZWISCHENWELT Wer läutet draußen an der Tür? Leg du die Beiten aus. Der Hausbesorger war’, wir solln am Ersten aus dem Haus. Wer läutet draußen an der Tür? Die Fuchsien blühn so nah. Pack, Liebste, mir mein Waschzeug ein und wein nicht: sie sind da. Fast gleichzeitig mit den Ehrungen anlässlich der Verleihung des ‘Theodor Kramer-Preises findet an der Donauuniversität Krems ein Symposium „Kampf um das Gedächtnis“ statt. Bei dieser Konferenz werden auch gegenläufige Erinnerungskulturen besprochen. In den letzten dreißig Jahren wurden in Österreich viele Anstrengungen unternommen, um die Erinnerung an den Holocaust und das Exil fest im kulturellen Gedächtnis der österreichischen Nation zu verankern. Gegenläufige Erinnerungen haben hier keinen Platz. Als Desideratum für diese Erinnerungskultur, die Situationen wie jene, die Theodor Kramer in seinem Gedicht beschreibt, nicht einmal mehr denkbar werden lässt, wäre zu formulieren, dass Ihre Werke — so wie die anderer Exilliteratinnen und —literaten — an Hauptschulen und Gymnasien als Pflichtlektüre eingeführt werden. Im Österreichischen Literaturmuseum werden sie ja bereits als Beispiele für die außerhalb der österreichischen Staatsgrenzen produzierte Literatur angeführt. Auch eine permanente Gedenkstätte für Theodor Kramer in Niederhollabrunn wäre wünschenswert sowie die Pflege seiner Literatur, besonders an örtlichen Schulen. Die Erinnerungskultur muss heute zu einer Kultur der Vergegenwärtigung, des wachen Beobachtens, des aktiven Einspruchs werden. Wie die jetzt noch im Filmarchiv in Wien laufende Ausstellung „Die Stadt ohne“ eindringlich aufzeigt, wird die Entwicklung einer Gesellschaft in Richtung Faschismus in vier Phasen angeheizt — zuerst wird die Gesellschaft polarisiert, dann werden Sündenböcke gesucht, als nächstes verlieren große Teil der Bevölkerung ihr Empathieempfinden und schließlich setzt eine allgemeine Brutalisierung ein. Ich meine, wir stecken sicher in der ersten Phase, wobei sich Anzeichen der zweiten und dritten Phase schon zeigen. Lassen wir es nicht so weit kommen. Machen wir als „gute Menschen“ den Mund auf! Das sind wir Ihnen und den Künstlern und Künstlerinnen schuldig, die sich die Mühe gemacht haben, ihr eigenes Trauma öffentlich darzustellen, um die Welt wachzurütteln. Karin Hanta, Magisterium für Übersetzen und Dolmetschen, Doktorat in Übersetzungswissenschaft (Universität Wien). In ihrer Dissertation „Zurück zur Muttersprache: Austro-amerikanische Exilschrifisteller_innen im österreichischen literarischen Feld, 19902015“ setzte sie sich eingehend mit Lore Segals Werk auseinander. Sie unterrichtet Übersetzungwissenschaft am Middlebury College in den USA. Als Übersetzerin arbeitete sie unter anderem für die Österreichische Exilbibliothek und das Österreichische Kulturforum in New York.