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nicht mehr vorhanden, die Befriedigung elementarster Bedürfnisse nicht mehr gewährleistet ist. Theodor Kramers Küche ist — verkürzt gesagt - eine politische. Kochen und Essen, handfeste Dinge ohne verschwommene Symbolik, erhalten in seinen Gedichten einen hohen semantischen Wert, erzählen sie doch von der Beschädigung der Dinge, von deren Zerstörung, von deren Verschwinden. Diesen Schreibimpuls teilt Theodor Kramer mit der heurigen Trägerin des nach ihm benannten Preises, Lore Segal. Von „Hausbrot und Brimsen“ schreibt Kramer in seinem Gedicht „Die Stehweinhalle“ („Verbannt aus Österreich“, 1943) über die Erinnerung an ein Österreich vor den Nationalsozialisten. Von „Brot und Butter“ schreibt Lore Segal — wie Kramer nicht in süßer Nostalgie, aber mit bitterer Klarheit. „Brot und Butter“ ist der Titel ihres jüngst erschienenen Prosatextes über die Küche ihrer Großmutter aus dem niederösterreichischen Fischamend. Auch hier verweisen Speisen auf etwas, was als unwiederbringlich verloren gekennzeichnet ist, nennen wir es „Heimat“. Es ist die Erinnerung an Gerüche und Geschmäcker einer Heimat, die 1938 unter Zwang verlassen werden musste, und sie hat etwas Portables, topografisch nicht Umreißbares. Die Erinnerung funktioniert im Exil in der Dominikanischen Republik ebenso wie in einem New Yorker Haushalt: „Ihe Kaffee in the cup tasted of Vienna, the soup in the plate had a complexity like fine wine.“ Namensgeber und Preisträgerin teilen sich also einiges Wenige: die Herkunft Österreich, den Lebensbruch des Exils und — zumindest eine Zeitlang -— das Zufluchtsland Großbritannien. Altersmäßig eine Generation weit auseinander, könnten ihre Schreibprogramme aber nicht unterschiedlicher sein: Theodor Kramer war bekanntlich Lyriker eines formal dezidiert traditionellen Zuschnitts, mit dem politischen Anspruch, für die zu schreiben, „die ohne Stimme sind“. Er ist auch im Exil beim Deutschen als Schreibsprache verblieben. Lore Segal, als Kind emigriert, wechselte früh ins Englische und tauchte als Schriftstellerin ein in den Kosmos moderner amerikanischer Erzählkonventionen. Die short story und ihre Medien wurden zu ihrem bevorzugten Arbeitsterrain. Den intellektuellen und kreativen Bezug zur deutschen Sprache und Kultur hat Lore Segal auf andere Weise in ihrem Werk produktiv gemacht, doch davon später. Das Essen und die damit verbundenen Gegenstände und Verrichtungen bilden sich in Lore Segals Werk als Konstanten ab, so das Wiener Kaffechaus. Dieser Topos ist im kommunikativen Gedächtnis der Familie gespeichert und funktioniert auch in den fiktionalen Texten, als ambivalentes Moment etwa in der Erzählung „Die fehlende Verwandtschaft“ (aus „Die dünne Schicht Geborgenheit“, 2004). Die Figur der Ilka, einer jungen Flüchtlingsfrau aus Wien, trifft eine andere Exilantin aus Wien. Die gemeinsam evozierte Erinnerung der beiden Frauen an die Wiener Kaffeehäuser ist eine „geteilte“ Erinnerung im Wortsinn. Während die vergangenheitsbezogene Figur der Gerti das Phantasma „Heimat“ über die Herkunftsküche ständig zu aktualisieren sucht, geht Ilka auf Distanz und nimmt - nicht nur gastronomisch — den zukunftsweisenden American Way of Life mit Pizza und Bloody Mary. Eli Wiesel spricht in seiner Rezension von Lores Segals autobiografischem Roman ,,Other People’s Houses“ (1964) davon, dass Uberlebende Zeugen sind. Ihre Erfahrungen haben das Gewicht von Zeugenaussagen. Fiir Lore Segal bedeutet Uberleben mehr als being still alive. 2001 in ihrem Vorwort zur amerikanischen Ubersetzung von Ruth Klügers Autobiografie „weiter leben“ macht sie auf eine fehlende Nuance im Titel „Still Alive“ dieser Ausgabe aufmerksam und schlägt vor: „going on living‘ suggests it’s a bit ofa chore.“ „Die dünne Schicht Geborgenheit“ heißt im englischen Original „Shakespeare’s Kitchen“ (2007). Die Autorin stellt also das Küchen-Motiv verbindlich in einen literarischen Kontext und Kanon. Keine - verkürzt gesagt — Kaffeehaus-Anekdote wird um ihrer selbst willen erzählt, sondern erhält ethische und existenzielle Relevanz. Lore Segals Schreiben ist grundiert von den Erfahrungen von Verfolgung und Exil, vom Wissen um den Holocaust und vom going on living. Es gelingt ihr, eine Art des poetischen Sprechens zu finden, die behände und regsam, ironisch und humorvoll ist und es gleichzeitig nicht zulässt, dass die Komplexität des Kontexts beruhigt und vereinfachend abgehandelt wird. Lore Segal weiß um das Prekäre von sicheren Standorten. „Other People’s Houses“, das 2001 unter dem Titel „Wo andere Leute wohnen“ auf deutsch erschienen und einer der beeindruckendsten Texte der Exilliteratur aus der jüngeren Autorengeneration ist, endet so: „Aber ich (...) bewege mich behutsam und voll Staunen auf dieser Insel meiner Behaglichkeit, denn ich weiß, dass sie auf allen Seiten umgeben ist von Katastrophen.“ Als die deutschen Truppen im März 1938 einmarschieren, wird der Schutzraum einer bürgerlichen Wiener Adoleszenz brutal aufgebrochen. Unter dem Druck antisemitischer Verordnungen und terroristischer Gesetze müssen Lore Groszmann und ihre Eltern die Wohnung aufgeben, hat das Kind die Schule zu verlassen und wird von seinem sozialen Umfeld isoliert. Im Dezember 1938 gelingt es, die Zehnjährige auf den ersten „Kindertransport“ zu bringen. Gemeinsam mit einigen hundert Kindern verlässt sie Wien mit dem Zug in Richtung Ärmelkanal. Lore Segal lebt Jahre bei verschiedenen Gastfamilien in Großbritannien. Sie erzählt aus der Kinderperspektive vom Überleben als displaced person ohne den hilfreichen Kontext eines Elternhauses, einer vertrauten Kultur und Sprache. Anstatt sich dankbar zu erweisen, blickt das Flüchtlingskind zunächst mit lakonischer Distanz auf die kurios anmutende Lebensweise seiner britischen Gastgeber, nimmt diese unter dem starken Assimilationsdruck aber schnell an. Lore hat das Glück, dass Vater und Mutter später mit einem domestic permit ebenfalls England erreichen. Unter den restriktiven Asylbedingungen können die Groszmanns aber nicht mehr als Familie zusammenleben. Mit den Eltern erfährt sie eine schmerzhafte und schwierige Wiederbegegnung - sie sind nicht mehr die gleichen, und auch die Jugendliche ist eine andere. Lore Segal erinnert sich: „Ich war ein Snob geworden. Meine Eltern machten alles falsch. Sie tranken ihren Kaffee am Küchentisch statt im Februar 2019 37