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eins nach dem anderen, ins Wasser fielen. Ein letztes umkreiste eine Zeitlang das Glas, bis es plötzlich stehen blieb. Ich atmete tief ein und aus. Abends, lange nachdem die Sabbatkerzen erloschen waren, die Hühnersuppe aufgegessen und von dem gebratenen Hühnchen nichts als ein Haufen Knochen übriggeblieben war, versammelte sich die Familie im Salon für meine Show. Manchmal sang ich. Manchmal tanzte ich. An diesem Abend kam ich die Stiegen herunter gestampft. Ich trug Gummistiefel, eine verkehrt herum angezogene Jacke und darüber einen Gürtel. Den in schwarze Tinte getauchten Filter der Zigarette hatte ich als Schnurrbart auf meine Oberlippe geklebt. Nun streckte ich meinen rechten Arm aus und wollte fürchterliche Dinge hinausschreien. Alle guckten gespannt, nicht sicher, ob sie entsetzt oder belustigt sein sollten. Auf einmal versagte meine Stimme, ich bekam keine Luft mehr und keuchte erbärmlich. Doktor Goldberg wurde geholt und gab mir eine schmerzhafte Spritze in den Oberschenkel, die Bestrafung, so dachte ich, für mein grausames Spiel, wonach ich lange mit dem linken Bein zuckte, bis ich endlich still dalag und tief ein- und ausatmete. Das zweite Mal widerfuhr mir dasselbe in der Synagoge bei der Bar Mitzwa-Feier meines Bruders, als ich, bereits elfjährig, vorne auf der Bima (Bühne) saß, die schwere Torarolle fest gegen meine Brust gedrückt, damit ihr der Rabbi mit Hilfe des Kantors ihren Samtrock und silbernen Schmuck abnehmen konnte. Der Schammes — der Gebetsdiener — hielt schon ungeduldig den silbernen Zeigestock, mit dem der Aufgerufene, in diesem Fall mein Bruder, die heiligen Buchstaben anzeigt und laut vorliest, über meinem Kopf. Plötzlich musste ich an den Eisausträger mit seiner Zange denken, von dem mir meine Mutter erzählt hatte. Ich sollte ein Gebet oder zumindest „Amen“ murmeln, doch auf einmal versagten mir wieder die Stimme und der Atem. Aber ich ließ die Torarolle nicht los. Es war mir, als ob man mich vor der Vladimir Vertlib Gemeinde entkleiden und die fürchterlichen Geheimnisse mit einer silbernen Zange aus meinem Rachen herauszupfen wollte, und plötzlich erbrach ich mein Frühstück auf die nackte Haut der heiligen Schrift. Vielleicht war der Räucherlachs verdorben gewesen, vielleicht war ich auf meinen Bruder auch ein wenig neidisch. Wie gesagt, ich war ein eigenartiger Junge. Peter Wortsman, 1952 in New York als Sohn österreichisch-jüdischer Emigranten geboren, wurde zweisprachig, d.h. „sprachverwirrt“, erzogen, hat Französich später noch dem Wirrwarr hinzugefügt. Er ist Autor von Romanen, Erzählungen, Theaterstücken, Aufsätzen, Prosagedichten, Liedern und Reiseberichten. Wortsman ist auch literarischer Übersetzer aus dem Deutschen ins Englische. Laureat des Beard’s Fund Short Story Award 1985, des Gertje Potash-Suhr Prosapreises der Society for Contemporary American Literature in German 2008, des Gold Grand Prize for Best Travel Story of the Year (Solas Awards Competition) 2012 und des Independent Publishers Book Award (IPPY) 2014. 1973 Fulbright Fellow an der Albert Ludwig Universität in Freiburg im Breisgau, 1974 Fellow der Thomas J. Watson Foundation in Wien, 2010 Holtzbrinck Fellow an der American Academy in Berlin, Sommer 2016 Stipendiat der Österreichischen Gesellschaft für Literatur in Wien. Seine Reiseberichte wurden 20082012 fünf Jahre nacheinander und noch einmal 2016 in The Best Travel Writing aufgenommen. In deutscher Übersetzung erschienen seine Erzählungen in den Zeitschriften „Manuskripte“, „Schreibheft‘, „Cicero“ und in der Anthologie „AmLit. Neue Literatur aus den USA“ (Berlin 1992), seine Aufsätze in „Die Welt“ und „Die Zeit“. Seine Interviews mit Überlebenden der Nazi-Konzentrationslager bilden die „Peter Wortsman Collection of Oral History“ im U.S. Holocaust Memorial Museum in Washington D.C. Vierter und letzter „Versuch“ des Autors, im Rahmen der Vorlesungsreihe „Ost-West-Passagen“ am Institut für Slawistik der Universität Salzburg die in den sogenannten Visegrad-Staaten und in Russland verbreiteten Einstellungen zu erklären. Der Vortrag, gehalten am 26. Jänner 2017, trug den Titel „Osteuropa — ein persönlicher Rundumschlag“. Der dritte „Versuch“ ist bereits in ZW Nr. 1-2/2017, . 52-53, unter dem Titel „Rechte und Mächte“ erschienen; der zweite „Versuch“ in ZW Nr. 1-2/2018, S. 72-75, unter dem Titel „Die Ukraine kennt sie alle“; der erste „Versuch“ in ZW Nr. 3/2018, S. 53-54, unter dem Titel „Die Schätze im Goldenen Horn und die Postkarten von St. Petersburg“. Der ukrainische Journalist Anatolij Scharij (geboren 1978 in Kiew) lebt seit einigen Jahren in Westeuropa. Er produziert You TubeVideos auf Russisch zu aktuellen politischen Themen, welche die Ukraine und den postsowjetischen Raum betreffen. Sein Schwerpunkt ist die Kritik an der ukrainischen Politik, an ukrainischen Medien und das Aufdecken von Fakes. Mit seinem You’ Tube-Kanal Shari.net hat er großen Erfolg. Scharij ist eine zwielichtige Figur, 40 ZWISCHENWELT und manches von dem, was er sagt, ist tendenziös, polemisch und vulgär, aber er ist zweifellos ein talentierter Journalist. Am 17. Mai 2016 stellte er ein Video ins Netz, in dem es um das Schicksal der Krim-Tataren geht (ein längeres Interview mit einem Vertreter der tatarischen Minderheit auf der Krim). Auf den Inhalt des Videos möchte ich hier nicht näher eingehen, das würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Das Schicksal der Krim-Tataren wird in Russland und der Ukraine heftig diskutiert. Das gesamte Volk der Krimtataren, damals knapp 200.000 Menschen, wurde in den drei Tagen vom 18. bis 20. Mai 1944 aus ihrer Heimat nach Zentralasien deportiert. Der „Vorwurf“ lautete, die meisten von ihnen hätten während der Besatzungszeit (1941-44) mit den Nazis kollaboriert. Von der Deportation waren alle Krimtataren betroffen, Frauen, Kinder, Säuglinge, Greise, also nicht nur jene, die während der Okkupationszeit tatsächlich in Bürgerwehren, eigenen Einheiten der Wehrmacht oder in der SS gedient hatten. Gerade die Kollaborateure waren von der von Stalin befohlenen Kollektivstrafe am wenigsten betroffen, weil viele von ihnen mit der deutschen Wehrmacht aus der Krim abgezogen waren. Während der Deportation und