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Editorial Der Februar 1934 in der Perspektive Kurt Bauers Eine erstaunlich wohlwollende Aufnahme fand das schmale Buch des Zeithistorikers Kurt Bauer „Der Februaraufstand 1934“, pünktlich erschienen zum 85. Jahrestag der Ereignisse. Der Autor möchte Fakten von Mythen endlich trennen und die Ereignisse „nüchtern und ohne parteipolitische, ideologische Verbrämung“ darstellen. Allein dieser Anspruch, unparteilich und frei von Ideologie zu sein, bedürfte einer kritischen Bestimmung des eigenen Standpunktes; es genügt nicht, den Abstand der damaligen Bürgerkriegsparteien zu heute geläufigen Vorstellungen von Demokratie und Menschenrechten zu vermessen und dabei die Kleinigkeit zu übersehen, daß diese heute geläufigen Vorstellungen vielfach von denen erkämpft und formuliert wurden, die in der politischen und bewaffneten Auseinandersetzung mit dem Faschismus in Österreich und Spanien zunächst unterlagen. In einem frühen Gedicht Paul Celans heißt es: Rufs, das Schibboleth, hinaus in die Fremde der Heimat: Februar. No pasaran. Dieses Schibboleth, Erkennungszeichen, das zugleich Heimat ist in der fremden Heimat, will nun Kurt Bauer, zumindest was den „Februar“ betrifft, nicht mehr gelten lassen. Für ihn waren die Februarkämpfe ein sinn- und aussichtslos angezettelter Aufstand, ein Blutvergießen, dessen Ausmaße zum Glück nicht an die von den Unterlegenen kolportierten Opferzahlen heranreichen, wie Bauer dokumentiert; dabei allerdings folgt er ein wenig der Methode, die früher einmal in der Verkehrsunfallsstatistik geläufig war: nämlich nur jene Toten zu zählen, die innerhalb von drei Tagen nach dem Unfall verstorben sind. Die Jahrtausende von Gefängsnisstrafen und Anhaltungen in Lagern, deren Todesstatistik noch unbekannt ist, läßt er beiseite - wie manch andere Folge der austrofaschistischen Diktatur. Entscheidend für Bauers Perspektive ist seine Konstruktion der Vorgeschichte: Die „dezidiert linke, marxistische Rhetorik“ der Sozialdemokratie habe das Bürgertum verschreckt, insbesondere die Ankündigung der Diktatur des Proletariats im Linzer Programm von 1926, und da habe man sich natürlich rüsten müssen. Allein dies gehört zu den typischen Geschichtsmythen einseitig forschender Historiker. Felix Kreisslers „Von der Revolution zur Annexion“ fehlt ebenso in der Literaturliste Bauers wie Karl Ausch‘ „Als die Banken fielen“. Mit anderen Worten: Die drückenden Begleiterscheinungen der Genfer Sanierung, die zur Währungsstabilisierung notwendig war, aber in einer die Verursacher der Probleme ungeschoren lassenden Weise durchgeführt wurde, sowie die Lausanner Sanierung, die sogenannte Völkerbundanleihe, bleiben in ihren Folgen undiskutiert. Unter der Anleitung des Völkerbundkommissars Rost van Tonningen ging es seit 1931 darum, den „revolutionären Schutt“ zu beseitigen, also de facto darum, sowohl den politischen Einfluß der Sozialdemokratie und die Macht der Freien Gewerkschaften zu brechen, als auch soziale Errungenschaften zu beseitigen oder möglichst zu beschränken. Das war ohne Zerschlagung der parlamentarischen Demokratie nicht möglich. Wer war dieser, bei Bauer nur beiläufig erwähnte Meinoud Rost van Tonningen, der 1931-36 Völkerbundkommissar in Österreich war und schon bei der Genfer Sanierung 1923-28 entscheidend 4 ZWISCHENWELT mitwirkte? Er war ein Faschist reinsten Wassers, führendes Mitglied der niederländischen nationalsozialistischen Bewegung, Kollaborateur unter dem Reichsstatthalter Arthur Seyß-Inquart (den er wohl schon aus Österreich gut kannte). Nur indem er sich im Juni 1945 das Leben nahm, entging er der Todesstrafe. Das führt zu einem Punkt, den der vorgeblich von keiner Ideologie benebelte Kurt Bauer völlig vernachlässigt: Die ideologische Formierung des Faschismus in Österreich - allein die Analyse von Dollfuß‘ sogenannter Trabrennplatzrede (1932) hätte dazu führen müssen, daß der Name Othmar Spann zumindest ein einziges Mal in dem Buch vorkommen hätte müssen. Ebenso vernachlässigt wird der notorische Antisemitismus des politischen Katholizismus in Österreich. Jedenfalls: Nicht in realpolitischer Abwägung ihrer Möglichkeiten allein handelten die Akteure des Dramas, sondern ebenso getrieben von ideologischen Motiven und propagandistischen Vorstellungen. Die Säkularisierung wurde als Leere und Krise empfunden; eine neue alte Möblierung ward angedacht. So wenig sich Bauer dazu aufrafft, den faschistischen Impetus eines Dollfuß und seines engen Beraters Rost van Tonningen außer durch Hinweise auf das ständige Drängen Mussolinis zu klären, so freudig stürzt er sich auf Ideologisches von sozialdemokratischer Seite, so auf den von Kurt Neumann verfaßten Aufruf „Generalstreik in ganz Österreich ausgerufen!“ in einer Extraausgabe der Grazer Zeitung „Arbeiterwille“, in dem zum „Endkampf gegen Kapitalismus, Wirtschaftsnot und Bedrückung“ aufgerufen wird. Große Worte fürwahr, verbergen sie doch den bescheideneren Inhalt der Februarkämpfe: nämlich die Verteidigung sozialer und demokratischer Rechte. Die FebruarkämpferInnen glichen darin jenen Protagonisten der Französischen Revolution, die im Gewande eines neuen Römertum für die Abschaffung feudalen Vorrechts eintraten. War für die Sozialdemokraten die sozialistische Zukunft sozusagen ihre erneuerte römische Republik, so war die bloße Rückkehr, so unerreichbar jene Zukunft war, zum status quo ante nach all dem bereits Geschehenen an Entrechtung, Demütigung und Sozialabbau schwerlich motivierend. Zwar wurden auch ernsthafte Verhandlungen von sozialdemokratischer Seite zur Überwindung der Krise seit der Ausschaltung des Parlaments im März 1933 geführt. Doch bevorzugte Dollfuß den faschistischen Weg, nicht den möglichen Kompromiß. Wie sehr Kurt Bauer in seiner „realpolitischen“ Rekonstruktion der Ereignisse befangen ist, zeigt sich letztlich auch in seiner Beurteilung des vielgeschmähten Artillerieeinsatzes gegen Gemeindebauten. Diese seien erstens als Festungen des Schutzbundes genutzt worden, zweitens habe man sich durch die Beschießung einen verlustreichen Sturmangriff erspart. Man hätte aber stattdessen verhandeln können: Die Sozialdemkratie wäre diszipliniert genug gewesen, einen Waffenstillstand einzuhalten, wenn das Parlament wieder zusammentreten hätte dürfen und die Notstandsgesetzgebung eingestellt worden wäre. Warum nicht? Wie sich die BewohnerInnen der beschossenen Gemeindebauten fühlten, beschreibt Martha Meisl in ihrer Erzählung „Angst“ in vorliegendem ZW-Heft. Es läßt sich diesbezügliches auch in der Autobiographie von Scarlett T. Epstein nachlesen.