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Nett finde ich auch, daß Kurt Bauer seinerseits wieder Mythen aufwärmt. Von den Gemeindebauten als Festungen war schon die Rede. Auch die angeblich so feige, meines Erachtens unvermeidliche, noch rechtzeitige Flucht der sozialdemokratischen Führer Otto Bauer und Julius Deutsch in die benachbarte Tschechoslowakei Gertraud Marinelli-König läßt Kurt Bauer nicht aus. Nicht jeder abwertende Blick ist ein nüchterner. Konstantin Kaiser Kurt Bauer: Der Februaraufstand 1934. Fakten und Mythen. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2019. 217. 44] ‚charmante Wienerin‘ bezeichnet. Hede Massing Wem die hochgeschätzte russische Dichterin Marina Cvetaeva (1892 — 1941) ein Begriff ist und wer von ihrem tragischen Schicksal Kenntnis hat, weiß, dass der Grund ihre Rückkehr aus dem Pariser Exil in die Sowjetunion 1939 die Folge der Verwicklung ihres Ehemannes Sergej Efron (1893 — 1941) in den Mord an dem hochrangigen sowjetischen Geheimagenten Ignace Reiss in Lausanne am 4. September 1937 war.” „Ludwik“?, so der Deckname von Ignace Reiss, war in Paris stationiert und wollte sich in die U.S.A. absetzen; in einem Briefan das ZK, der abgefangen wurde, gab er seiner Bestürzung über die Schauprozesse Ausdruck. Es handelte sich um einen spektakulär Terrorakt, der bis in die Gegenwart Historiker beschäftigt und auch als Stoff Filmemacher und Schriftsteller inspiriert.‘ Eine Kopie dieses Briefes ging nach New York an Hede Massing, eine Wiener Schauspielerin und von „Ludwik“ ausgebildete Geheimagentin. Sie veröffendlichte diesen Brief 1951 in ihrer Autobiographie The Deception. KGB Target: America’, welche 1967 auch in deutscher Übersetzung‘ herauskam. 1969 erschienen von Elisabeth (Elsa) Poretsky, der Ehefrau von Ignace Reiss, unter dem Titel Our own people, Memoiren’. Darin erinnert sie, in einer dichten Erzählweise, an die Schicksale einer Gruppe von Freunden, die aus der galizischen Grenzstadt Podwo°oczyska stammend,® sich für die Revolution in Russland begeisterten sowie für die polnische kommunistische Partei und in den 1930er Jahren im politischen Apparat der Sowjetunion zu Tätern aufstiegen und zu Opfern wurden. Einer von ihnen war Ignace Reiss. Natan Porecki, so sein wirklicher Name’, verbanden mit Wien einige Stationen seines Lebens. Angeblich studierte er hier Jus'%; 1919 nahm er mit einem Mandat der polnischen KP an einem Treffen der Jugendinternationale teil!’, hier traf er auf Jözef Krasny-Rotstadt, der ihn vor dem Hintergrund des russischpolnische Krieges geheimdienstlicher Arbeit zuführte; ab 1922 geht er illegaler Tätigkeit in Lemberg nach und wird verhaftet; nach seiner Freilassung ist er zunächst in Berlin, danach aber in Wien an der Sowjetischen Botschaft als Geheimagent tätig. In den Memoiren seiner Frau werden einige Interna über das Personal, welches an dieser Einrichtung'” damals akkreditiert war, zum Besten gegeben.'? Die Jahre 1929 bis 1932 verbringt das Ehepaar Reiss in Moskau, ab da baut Reiss von Paris aus ein eigenständiges Agentennetzwerk auf.'* Seit 1919 ist Reiss mit Ika Sorge bekannt'”. Dieser wird ihn mit Hede Massing zusammenbringen.° Es ist überaus unüblich, dass eine Agentin ihre Memoiren schreibt; wenn das geschieht, wie im Falle von Hede Massing, dann tut sie dies gezielt in einer bestimmten Absicht, und es ist an den Historikerinnen und Historikern zu entscheiden, wieviel Glaubwürdigkeit sie dieser „cold war literature“ zubilligen. Die Memoiren beginnen mit einem Kapitel „Childhood“. Die Familie Tune war seit 1907 im Zweiten Wiener Gemeindebezirk in der Wolfgang Schmälzl-Gasse wohnhaft. Zuvor waren sie kurzzeitig nach New York ausgewandert. Als Vierjährige passierte sie 1904 mit ihrem Vater Filip und ihrer Mutter Rosa, gebürtig aus Jezierna, Galizien, die Immigrationsmeldestelle in New York!’. Ein Bruder wurde 1907 in Wien nach Rückkehr aus Amerika geboren. Die Mutter entstammte einer wohlhabenden und angesehenen Rabbiner-Familie, sie verlor die Eltern mit sieben Jahren, worauf sie zu ihrem älteren Bruder Max nach Wien kam, in dessen Haushalt, in einem vornehmen Bezirk (Wiedner Hauptstraße), sie bis zu ihrer „nicht standesgemäßen“ Heirat lebte. Die Ehe war unglücklich, der Bruder der Mutter brach den Kontakt zu ihr ab. Dem Vater ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Auch er war Pole, ein Feschak und „Halodri“, für die Tochter „die Verkörperung Juli 2019 5