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Basler Zeitung, Mittwoch, 2. Februar 2000 Sanna Schulte Erica Pedrettis Zeitungspalimpseste Die Palimpseste aus Zeitungsseiten und Tagebucheinträgen weisen die schweizerische Künstlerin Erica Pedretti als malende Schriftstellerin und schreibende Malerin aus. Die gesammelten Zeitungsumschriften aus dem Jahr 2000 wurden unter dem Titel Heute. Ein Tagebuch veröffentlicht und führen die Verbindung von Malen und Schreiben einerseits und von Politik und Privatleben andererseits vor. Einige Eintragungen zur Zeitgeschichte sind von erschreckender Aktualität. In den Collagen, die die Basler Zeitung aus dem Jahr 2000 mit diversen Artikeln, Stellenanzeigen, Werbung und Fotos unter einer Schicht weißer Farbe durchschimmern lassen, während diese übertünchten Zeitungsseiten gleichzeitig den Untergrund für ein Tagebuch bilden, treffen sich zwei Textsorten. Zeitungsartikel und Tagebucheintrag ähneln einander in ihrer Aktualität, ihrer Beschränkung auf einen Tag und ihrer Flüchtigkeit. Eintagsfliegen. Momentaufnahmen. Die Reichweite der Zeitung allerdings, ihre Verbreitung und ihre Verhandlung öffentlicher Belange stehen dem intimen Privatraum des Tagebuchs diametral gegenüber. Ein Palimpsest bezeichnet ursprünglich ein wiederverwendetes Manuskript, zumeist Papyrus oder Pergament, dessen Schriftzeichen abgeschabt oder abgewaschen wurden, gleichzeitig aber unter der neueren Beschriftung noch sichtbar sind. Unter einem Text scheint ein anderer durch. Erica Pedretti verwendet das Palimpsest als collagierende und montierende Technik, um zwei Texte miteinander zu konfrontieren. Das Private findet auf der Basis des Politischen statt. Die handschriftlichen Tagebucheintragungen legen sich über die gedruckten Buchstaben und fordern zum doppelten Entziffern heraus. Einerseits überlagert das Handschriftliche das Gedruckte und macht es gänzlich unlesbar. Andererseits präsentiert sich das Handschriftliche als Randerscheinung, denn es lässt viel Freiraum auf einer Seite, um den Blick auf das Darunterliegende nicht zu verstellen. Die visuelle Dimension dieser Kunstwerke und die Gestaltung der Schrift ist nicht zu unterschätzen. Das Buch sei zum Anschauen, sagt Erica Pedretti, zum Vorlesen eigne es sich nicht: „Schriftbild und Bild hängen voneinander ab, gehören zusammen.“' Das Handschriftliche setzt sich in ein Verhältnis zum Gedruckten, das variiert. Mal steht es quer zum Gedruckten, mal steht es auf dem Kopf, mal passt es sich von der Ausrichtung dem Gedruckten an. In einigen dieser Palimpseste überlagern handschriftliche Textteile einander und verdoppeln so auf der einen Seite die handschriftliche Ebene und erzeugen auf der anderen Seite einen Spiegeleffekt auf die Machart der Palimpseste. Inhaltlich zeugen sowohl die Zeitungsblätter als auch die Tagebucheintragungen von Gegenwart. Das Heute steht im Mittelpunkt, ob es sich aus der Zeitung oder mit den Anforderungen des Alltags aufdrängt. Heute entsteht 2000 auf Anregung des Literaturhauses Basel. Pedretti hatte es schon lange gereizt, zu den „fatalen Textauszug aus: Erica Pedretti, Heute. Ein Tagebuch. © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2001. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin. Nachbarschaften“? der Zeitungsmeldungen mit den privaten Begebenheiten zu arbeiten: „Die Basler Einladung gab den Anstoß, eine alte Idee zu realisieren: alltägliche Erlebnisse, die verschiedenen privaten Erfahrungen vor dem Hintergrund der aktuellen Politik, des ‚Weltgeschehens‘, zu notieren, auch in der Auseinandersetzung damit. Die Dissonanz (Welt-)Geschichte, Kriege, Bombardements, Vertreibungen usw. / Individuelles, Privates darzustellen ist ein Projekt, das mich von jeher beschäftigt, wahrscheinlich seit den Kriegserfahrungen meiner Kindheit.“? Der hier abgebildete Tagebucheintrag auf der übertünchten Basler Zeitung vom 2. Februar 2000 irritiert mehr als neunzehn Jahre später durch seine Aktualität, die um so stärker ins Gewicht fällt, als sich die Palimpseste als Momentaufnahmen der unmittelbaren Gegenwart ausstellen. Der Text thematisiert zwar persönliches Entsetzen, bezicht sich aber dezidiert auf politische Ereignisse und bildet damit eher die Ausnahme unter den Eintragungen. Das Politische bricht ins Private ein. Der Eintrag wird zum Kommentar der erstmals bundesweiten schwarz-blauen Regierungsbildung in Österreich. Die Verbindungslinien und Kontinuitäten, die hier aufgezeigt werden, lassen sich bis türkis-blau weiterdenken. „Hitler hatte solchen Leuten seine Macht zu verdanken“, heifst es über Wolfgang Schüssel und die „guten konservativen Christen“, die, „um zu reüssieren, mit jedem Teufel einen Pakt schließen wüden.“ In diesem Rückgriff auf die Geschichte der Machtübergabe an die Nationalsozialisten offenbart sich die diachrone Dimension des Palimpsests. Unter der Gegenwart lebt das vermeintlich Vergangene. Das Alte und Übertünchte wird wieder sichtbar, das Vergangene scheint durch und lsst sich nie vollständig übermalen oder überschreiben: „Um etwas loszuwerden, wird es überschrieben, mit neuem Text zugedeckt, ein Satz nach dem anderen, eine Schicht über die vorhergehende, alles ist noch da, aber kaum mehr zu lesen.“° Sanna Schulte, geb. 1985 in Münster, promovierte an der Universität Aachen mit einer Dissertation zu Herta Müllers Poetologie. Als Franz Werfel-Stipendiatin nach Wien gekommen. Arbeitet derzeit am Literaturarchiv der ÖNB und lehrt an der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Erinnerungsliteratur, NestbeschmutzerInnen, das Kabarett der 20er-Jahre, die Wiener Gruppe. Anmerkungen 1 Erica Pedretti: Schreiben & Uberschreiben. In: Schreiben und Streichen. Zu einem Moment produktiver Negativitat. Hrsg. v. Lucas Marco Gisi, Hubert Thüring und Irmgard M. Wirtz. Göttingen 2011. S. 347-351, hier S. 349. 2 Ebenda, S. 348. 3 Ebenda, S. 349. 4 Erica Pedretti: Heute. Ein Tagebuch. Frankfurt am Main 2001. Zeitungspalimpsest Nr. 4. (linke Seite) 5 Pedretti: Schreiben & Uberschreiben, S. 347. Juli 2019 13