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Jedenfalls hat ein Studienjahr in Wien genügt, um mein Interesse an der Frage, wer jüdisch sei und welche Eigenheiten jüdische Menschen hätten bzw. welche ihnen zugeschrieben werden, zu entzünden. Und ich bekam reichlich Gelegenheit, ihm nachzugehen, obwohl es damals ganz und gar nicht üblich war, dass sich Menschen mit jüdischen Vorfahren als solche ‚outeten‘, wie das später geschah.? Das Thema war gleichsam tabuisiert. Wer öffentlich jemanden als Juden bezeichnete, musste damit rechnen, wegen Antisemitismus belangt zu werden.° Es brauchte gar nicht den überdeutlichen, infamen Unterton, der Professor Taras Borodajkewycz bei seinen Vorlesungen an der Hochschule für Welthandel (nunmehr Wirtschaftsuniversität) nachgewiesen wurde (H. Fischer, 1966, Neuauflage 2015). Seine Verurteilung hatte in der Bevölkerung allerdings eine gewisse Polarisierung zur Folge: In freiheitlichen akademischen Kreisen waren Aussagen wie „Den Antisemitismus des Professor Borodajkewycz vertritt ich allemal!“ öfters zu hören. Ergebnis meiner frühen, unbewussten Sozialisation: ein antisemitischer Bodensatz? In den ersten Kriegsjahren — meine älteren Geschwister gingen bereits ins Gymnasium — hatte meine Mutter viel Zeit für mich, die sie u.a. dazu nutzte, mir Lieder und Gedichte beizubringen. Darunter war auch (mäßig illustriert) Friedrich Rückerts’ bekannte Kinderballade „Vom Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt“. Diese hat mich besonders berührt mit ihrem Auf und Ab von erfüllten Wünschen und Enttäuschungen und letztlich einem halbwegs versöhnlichen Ende. Darin hieß es: Alle meine Kameraden Haben schöne Blätter an, Und ich habe nur Nadeln, Niemand rührt mich an; Dürft‘ ich wünschen, wie ich wollt‘, Wünscht‘ ich mir Blätter von lauter Gold.“ Wies Nacht ist, schläft das Bäumlein ein, Und früh ists aufgewacht; Da hatt“ es goldene Blätter fein, Das war eine Pracht! Das Bäumlein spricht: „Nun bin ich stolz; < Goldene Blätter hat kein Baum im Holz.“ Aber wie es abend ward, Ging der Jude durch den Wald Mit großem Sack und langem Bart, Der sieht die goldnen Blätter bald; Er steckt sie ein, geht eilends fort Und lässt das leere Bäumlein dort.® Es war das erste Mal, dass ich dem Wort ‚Jude‘- und gleich als Synonym fiir Rauber begegnet bin. Ohne weiteres Verständnis, aber voll mit negativen Emotionen hat sich das Wort — gleichsam einen Prototyp bezeichnend — mitsamt seiner Assoziation eingeprägt. Ein zweites Ereignis hat nachhaltige Wirkungen hinterlassen: Meine Taufpatin betrieb mit meinem Onkel oberhalb von Innsbruck eine Pension, wo sie meine blinde Großmutter pflegte. Ich war noch nicht vier Jahre alt, als meine Mutter mit mir dorthin fuhr, um ihre Schwester bei der Betreuung der Großmutter einige 24 ZWISCHENWELT Tage zu unterstützen. Dazu gehörten jeden Tag Spaziergänge, deren erste Station jeweils die nahe Kirche war, die den Namen Judenstein wägt. Während meine Großmutter betete, erklärte mir meine Mutter, was rechts in einer Ecke mit Figuren eindrücklich dargestellt war: Drei Männer mit grimmigen Gesichtern und Messern in den Händen waren gerade dabei, ein kleines Kind zu töten. „Das ist das Heilige Anderle von Rinn. Es wurde vor langer Zeit hier von Juden umgebracht.“ Ich war tiefbeeindruckt. Da das nackte Kind, über dessen weißen Körper das Blut floss, dort drei starke, schreckliche Männer. Irgendwie schien ich das Verbrechen an dem wehrlosen Kind schon zu begreifen. Den Männern fehlte auch kaum ein Attribut, das sie zu Bösewichten stempelte: dunkle Gesichter mit blitzenden Augen, lange Haare, spitze Bärte. Dass sie „obendrein noch“ Juden waren, konnte ich in seiner Tragweite damals freilich noch nicht erfassen, habe mir aber auch dieses Detail eingeprägt.? (vgl. Thonhauser, 2010, S. 12 £.) In der Stadt meiner Kindheit lebten zwei tüchtige jüdische Kaufleute, die der Konkurrenz das Leben schwer machten. Um ihre (vorübergehende) Verhaftung 1938 rankte sich die folgende Anckdote, die bei den Erwachsenen immer wieder Heiterkeit erzeugte: Der eine war bereits im Gefängnis, als man den anderen brachte. Dieser klagte bitter über sein Schicksal, bis der andere ironisch meinte: „G’schieht dir recht, was bist ä Jud‘.“ Den Witz daran habe ich nicht verstanden, aber trotzdem mitgelacht. Das Thema Judentum bzw. Antisemitismus kam in meiner Schulzeit so gut wie gar nicht vor. Im Deutschunterricht blieb es ebenso ausgeblendet wie im Geschichtsunterricht. Für die neueste Geschichte reichte die Zeit genauso wenig wie für Kafka, Kraus, Schnitzler, Zweig und andere. Im Religionsunterricht war, wenn es um „historische“ Aspekte, wie die Flucht durch das Rote Meer, ging, vom Volk Israel die Rede, die Schuld am Kreuzestod Christi teilten sich (zu ungleichen Teilen) der Romer Pontius Pilatus und ,,die Juden“.!° Vorurteilsbegiinstigend wirkte der Umstand, dass Judas (Ischariot), der Verrater, und die Juden als Ethnie bzw. Religionsgemeinschaft unter sehr ahnlich klingender Bezeichnung tradiert wurden. Was dem einen (angeblich) nachgewiesen wurde (Geldgier, Verschlagenheit, etc.), konnte den anderen leicht als allgemeines Merkmal zugeschrieben werden. Im Alltag wurde vieles, was von minderer Qualität war, von den Leuten als ‚Jud‘ bezeichnet: ein ordinärer Schuss mit der Fußspitze beim Fußballspielen, eine unzureichend angezündete Zigarette, ein in der aufzuführenden Mauer falsch liegender Ziegelstein oder ein verkehrt liegendes Holzscheit in einer ‚Holzgräde‘ (so bezeichnete man bei uns sorgfältig geschlichtetes Brennholz), eine aus dem Mantel des Fahrrads hervorquellende Gummiblase und selbstverständlich Geschäftsleute, die überhöhte Preise verlangten oder einem minderwertige Ware andrehten. Ein ideologischer Hintergrund bestand in der Überzeugung der christlichen Mehrheit, die Juden entsprächen dem Typus des „Erzfremden (eigentlich des ‚Antichrist‘); darum erscheint ihr noch heute jeder, der anders ist, als eine Art ‚Jude‘.“ (Dahmer, 1993, S. 188) In meiner Familie wurde nie, weder positiv noch negativ, über Juden oder Jüdisches gesprochen, als ob ein Tabu darüber verhängt worden wäre.!! Nur einmal, als ich berichtete, aus unserem Bekanntenkreis habe eine junge Frau in Jerusalem geheiratet, entfuhr meiner Mutter ein „Um Gottes willen!“