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Martin Auer sondern eine Frage der Interessen’ Kein Mensch hat das Recht, den anderen zu tolerieren. Amalie Taubels an Samuel Holdheim (Kobler 1938: 66) Dieser Beitrag untersucht Unterrichtsempfehlungen und Unterrichtsmaterialien zum Thema Antisemitismus, herausgegeben von internationalen und nationalen österreichischen Organisationen. Dabei wird festgestellt, dass Antisemitismus nicht politisch betrachtet wird, sondern nur auf der Ebene des Individuums, als eine bestimmte Wahrnehmung, die korrigiert werden soll, indem Vorurteile abgebaut werden. Dem wird entgegengehalten, dass Antisemitismus — wie Rassismus überhaupt — nur verstanden werden kann, wenn seine jeweilige Funktion für die verschiedenen Interessensgruppen der Gesellschaft erkannt wird. Zuvor ein Beispiel aus der Praxis, beschrieben in der FAZ vom 29. Juli 2018: Was erfahren Zwölf- bis Dreizehnjährige im AnneFrank-Zentrum Berlin über den Antisemitismus der Nationalsozialisten? Paul [der Betreuer] notiert auf ein Flipchart-Papier die Überschrift: „Ein ganz normaler Tag“. Er gibt den Schülern Edding-Stifte, mit denen alle auf das Blatt schreiben, was sie den Tag über so machen: duschen, frühstücken, ausschlafen, in die Schule gehen, Hands checken, Bus fahren, Zähne putzen, mit dem Hund rausgehen, Freunde treffen, Fußball spielen, Schwimmen gehen, Fahrrad fahren, einkaufen, in die Moschee gehen, tanzen, Katze füttern, Mindcraft spielen. Dann teilt Paul jedem Schüler drei Karten aus, auf denen jeweils eine Verordnung gegen Juden abgedruckt ist (Schmelcher 2018). Und dann wird alles durchgestrichen, was auf Grund dieser Verordnungen den Juden untersagt ist. Fazit: Schüler, die den Alltag jüdischer Kinder im Nationalsozialismus mit ihrem eigenen vergleichen, verstehen ohne große Belehrungen dies: Für deutsche Juden war seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 kein einziger Tag mehr normal (ebd). Aber warum war das so? Weil die Nazis böse auf die Juden waren? Oder verrückt? Oder was? Auch bei den Unterrichtsempfehlungen fällt auf, dass Antisemitismus generell nicht politisch betrachtet wird, sondern auf der Ebene von Individuen. In einem „Leitfaden für Pädagoginnen und Pädagogen“, herausgegeben von der OSZE und Yad Vashem, wird Antisemitismus folgendermaßen definiert: Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen (International Holocaust Remembrance Alliance 2016). Dies ist eine sozusagen offizielle Definition von Antisemitismus, die „Arbeitsdefinition von Antisemitismus“, die spater — 2016 — von der zwischenstaatlichen International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) angenommen wurde, an der auch Österreich teilnimmt. Antisemitismus wird also definiert als eine Wahrnehmung, als ein individuelles psychisches Phänomen, und nicht als soziales oder politisches Phänomen. Natürlich ist diese Wahrnehmung eine falsche und daraus ergibt sich logisch, dass man sie durch eine 28 — ZWISCHENWELT korrekte Wahrnehmung ersetzen muss, dass man also Vorurteile gegen Juden und Jüdinnen durch ein realitätsgerechtes Bild von Judentum und jüdischen Menschen ersetzen muss. Das drückt sich schon in den Titeln weiterer Broschüren aus, wie zum Beispiel Ein Mensch ist ein Mensch (Lichtblau, Ecker 0.J.) oder Prejudice. You Too? (Mok et al. o.J.). Ein typisches Zitat aus dieser Broschiire: But one prejudice that goes back centuries still exists: the idea that Jews will do anything to be rich and powerful, even by tricky means. Uncovering and challenging this prejudice are central to combating anti-Semitism (S. 10). „Antisemitismus“, heißt es weiter in dem Leitfaden der OSZE, klagt Jüdinnen und Juden häufig der Verschwörung zum Schaden der Menschheit an und wird oft benutzt, um sie dafür verantwortlich zu machen, „wenn etwas falsch läuft“. Er drückt sich in Worten, in schriftlicher und visueller Form und in Taten aus und verwendet dazu unheilvolle Stereotypen und negative Charakterztige (OSCE/ ODIHR/Yad Vashem 2007: 3). Es wird aber nicht gesagt, von wem Antisemitismus in dieser Weise benutzt wird. Von wem, zu welchen Zwecken, unter welchen Umständen. Als Lernziele definiert der Leitfaden: antisemitische Stereotype und Denkweisen |...] zu erkennen und abzulehnen. Hierdurch verringert sich die Wahrscheinlichkeit, dass die Schiilerinnen und Schiiler antisemitische Sichtweisen annehmen, wenn sie mit solchen konfrontiert werden. zu lernen, andere Sichtweisen ggf. als unterschiedlich, aber grundsätzlich als gleichwertig anzusehen. Auf diese Weise werden sie motiviert, sich ihre Persönlichkeit anhand positiver Elemente aufzubauen, anstatt sich über eine negative Abgrenzung anhand antisemitischer Stereotype zu definieren. ein gemeinsames Verständnis dafür zu entwickeln, dass ‚jede Person gleichberechtigt und individuell behandelt werden muss (OSCE/ODIHR/Yad Vashem 2007: 7). Und wenig später noch einmal: Konzentrieren Sie sich auf die Vielschichtigkeit jüdischen Lebens. Antisemitismus funktioniert über Stereotypisierung, Verallgemeinerungen und falsche Zuschreibungen. Zeigen Sie Ihren Schülerinnen und Schülern anhand vieler verschiedener Beispiele die breite Palette jüdischen Lebens, um diese Verzerrungen auszugleichen (OSCE! ODIHR/Yad Vashem 2007: 10). Erst spät im Text wird darauf eingegangen, dass Antisemitismus ein soziales Phänomen ist: Zweifelsohne erfüllt Antisemitismus in sozialen Gruppenprozessen eine bestimmte Funktion: Er diente und dient bis heute als Vergemeinschaftungsmodus, der eine Gruppe nach aufen abgrenzt. Anders gesagt konstruiert Antisemitismus ein Zugehörigkeitsgefühl, ein „Uns“, indem „die Juden“ aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden (OSCE/ODIHR/Yad Vashem 2007: 13). Doch welchem Zweck dient die Schaffung dieses „Uns“?? Welche gesellschaftlichen Gruppen sollen zusammengeschlossen werden? Und warum braucht es überhaupt ein künstliches „Uns“? Das bleibt unbeantwortet. Die Broschüre des Leo-Baeck-Instituts „Deutsch-jüdische Geschichte im Unterricht“ (Leo Baeck Institut 2011) kritisiert zu