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Recht, dass bei der Darstellung der Geschichte der Juden „der Antisemitismus, die Verfolgungsgeschichte und der Holocaust einseitig im Vordergrund“ stehen (S. V), und fordert einen Perspektivwechsel. Wie soll dieser aussehen? „Neben der unverzichtbaren Erinnerung an den Holocaust muss die ebenso unverzichtbare Erinnerung an die gemeinsame Geschichte in Europa stehen“ (S. VD). „Die Juden waren im Verlauf der Geschichte nicht nur Objekte, Verfolgte und Opfer, sondern auch Subjckte, d.h. aktive Bürger und kreative Gestalter von Kultur, Wirtschaft und Geschichte in Mitteleuropa“ (S. VI). Es wird betont, dass das Judentum zu den geschichtlichen Grundlagen unserer Kultur gehört, dass die deutsch-jüdische Geschichte des 19. Jahrhunderts eine Erfolgsgeschichte ist, dass bis 1933 ein Drittel aller deutschen Nobelpreisträger Juden waren, dass die deutsch-jüdische Geschichte nicht mit dem Holocaust endet, dass deutsch-jüdische Geschichte auch eine Geschichte der Integration ist und von ihr auch für die Integration muslimischer und anderer Migranten gelernt werden kann (S. VID. Es ist wichtig, den bedeutenden Beitrag der jüdischen Geschichte zur deutschen Geschichte und den hohen Rang der jüdischen Kultur in unserem kulturellen Erbe zu erkennen. Diese Erkenntnis ist eine wichtige Voraussetzung für Verstehen, Achtung und Toleranz (S.VIID. An all dem ist nichts Falsches. Aber etwas fehlt: Der Zusammenhang zwischen Verfolgungsgeschichte und Erfolgsgeschichte. Die stehen hier nur nebeneinander. Aufdie Darlegung der Kerngedanken folgen Kapitel zu wichtigen Abschnitten der Geschichte. Auch zu denen wäre einiges zu sagen. Doch am auffallendsten ist, dass im Kapitel über Nationalsozialismus und Holocaust nicht ein Wort über die Funktion der antisemitischen Propaganda und der darauffolgenden Vertreibung, Enteignung und Ermordung für die gesamten politischen Ziele der Nationalsozialisten gesagt wird, nämlich ihre Funktion für die Zerschlagung der Demokratie, der ArbeiterInnenbewegung, die Errichtung der Diktatur und den geplanten Eroberungskrieg (S. XXII-XXV). In der Fassung von 2003 heißt es noch: Antisemitismus war ein elementarer Bestandteil der nationalsozialistischen Ideologie und des Parteiprogramms und wurde daher 1933 zum Prinzip der Regierungspolitik. Erstes Ziel war die Ausschaltung der Juden aus dem politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben Deutschlands (LBI-Kommission für die Verbreitung deutschjüdischer Geschichte o.].). Der letzte Satz wurde in der Fassung von 2011 gestrichen (Leo Baeck Institut 2011: XXIII). Doch der Eindruck, dass die Vernichtung der Juden das einzige Ziel der Nazis war, bleibt bestehen. Das Ziel all dieser Empfehlungen ist also, Vorurteile abzubauen, Stereotype zu entlarven, Toleranz und Empathie zu fördern. Die Geschichte der Juden wird als eine Abfolge von guten und schlechten Zeiten für die Juden gezeigt; betont wird, dass Juden nicht nur Opfer von Verfolgung waren, sondern dass auch Zeiten des friedlichen Zusammenlebens mit Christen und Muslimen möglich waren. Hervorgehoben werden die positiven Leistungen von Juden und Jüdinnen. Großer Wert wird auch auf die Darstellung der Vielfältigkeit jüdischen Lebens gelegt, um einem einseitigen Bild entgegenzuwirken. Doch in keinem der Dokumente wird die Frage gestellt, warum, unter welchen Bedingungen friedliches Zusammenleben möglich war, und warum, unter welchen Bedingungen jeweils dieses friedliche Zusammenleben unmöglich gemacht wurde. Antisemitismus ist nicht nur eine Frage der Wahrnehmung. Antisemitismus hat gesellschaftliche Funktionen. Um Antisemitismus zu erkennen und diesem entgegenzuwirken, müssen diese Funktionen erkannt werden. Es muss erkannt werden, welche Funktionen die Konstruktion von Identitäten und Minderheiten hat. Es muss erkannt werden, unter welchen Umständen Vorurteile politisch wirksam werden bzw. gemacht werden; wie irrationale Vorstellungen und Gefühle mit realen Interessen unterschiedlicher Gruppen zusammenhängen. Und da gibt es eben psychologische Bedürfnisse wie Zugehörigkeit durch Abgrenzung, Aggressionsableitung, einfache Welterklärung usw., aber auch konkrete materielle und Machtinteressen. In den Unterrichtsmaterialien ist jedoch fast nur von der subjektiven psychischen Verfasstheit der antisemitischen Individuen die Rede: „Ohne die Analyse der subjektiven Funktionalität des Antisemitismus sind dessen Erfolge nicht zu verstehen“ (Peham, Rajal 2011: 3) heißt es in einem Newsletter von Yad Vashem. Die Konstruktion von Minderheiten erfüllt einen doppelten Zweck: Sie spaltet Gruppen, die gemeinsame Interessen haben, in Mehrheits- und Minderheitsangehörige und schwächt sie so. Und sie schließt Gruppen, die unterschiedliche Interessen haben, zusammen und erzeugt den Anschein, dass sie, die „Mehrheit“ gemeinsame Interessen haben. Sie erzeugt den Anschein, dass die Interessen der Eliten die Interessen der Mehrheit sind. (Dabei können auch zahlenmäßige Mehrheiten als minderwertige Gruppen konstruiert werden, z.B. Frauen oder die Bevölkerung von Kolonien.) Diese Konstruktionen ermöglichen dann Schuldzuweisungen, die Rechtfertigung von Ausbeutung (durch Besteuerung, Versklavung, schlechtere Bezahlung etc.), Beseitigung von Konkurrenz, Beraubung, Vertreibung und Ausrottung. Der Anthropologe Brian Ferguson nennt das Jdenterest: An identerest group is an ad hoc amalgamation of different kinds of people who, in a given historical and political situation, come together to pursue common material and symbolic gain. An identerest conflict is one in which at least one such group targets what it perceives as another such group said to pose a collective threat (Ferguson 2003: 28). Ferguson betont also den materiellen ebenso wie den symbolischen Gewinn. Political entrepreneurs who seek to create a following will construct a message that appeals to the interests and identities of different kinds of people, and appeals to each person in different but congruent ways. Those who hear the call are likely to respond differently, according to how well the message plays to their total, compound sense of self and self-interest, and what potential for action is associated with who they are. Some will support from the sidelines, some will rush to the core, some will reject the message (Ferguson 2003: 28). Und er zitiert den Politikwissenschaftler V.P. Gagnon: The challenge for elites is therefore to define the interest of the collective in a way that coincides with their own power interests (Gagnon 1994: 135). Zur Bildung einer identerest coalition gehören noch zwei weitere Faktoren: Die Schaffung eines internen Sicherheitsdilemmas und Polarisierung (Ferguson 2003: 28-29). Diese Analysen beziehen sich auf sogenannte „ethnische“ Konflikte in der Zeit nach dem Ende des Kalten Kriegs. Doch sie passen auf political entrepreneurs aller Zeiten, insbesondere auch auf den politischen Unternehmer Adolf Hitler und seine Kumpane. Juli 2019 29