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Wenn man einen Blick auf die Geschichte des Judentums wirft, drängen sich zwei Fragen auf: Über Jahrhunderte wurden Juden im christlichen Europa verfolgt, vertrieben, beraubt und ermordet. Aber wie kommt es, dass sie in all diesen Jahrhunderten nicht gänzlich vertrieben und ausgerottet worden sind? Ganz einfach: Weil man sie gebraucht hat: Als Handwerker, als Kleinhändler, die die Waren aus den Städten zu den Bauern brachten, als Fernhändler, die Güter aus dem Orient in den Westen brachten, als Ärzte, als schreibkundige Gutsverwalter und Steuereinnehmer, als Geldverleiher und Bankiers, die den Fürsten das Geld für ihre Hofhaltung und ihre Kriege besorgten, als Gelehrte, Philosophen und Wissenschaftler. Aber wenn Juden so nützlich für die Gesellschaft waren, warum hat man sie dann als Fremde verfolgt, warum hat man ihnen nicht die gleichen Rechte zugestanden wie anderen Menschen? Ganz einfach: Weil sie als Fremde, als nur Geduldete, noch größeren Nutzen brachten. Weil man sie als Fremde leichter wieder loswerden konnte, wenn man sie nicht mehr brauchte, ihre Konkurrenz fürchtete, ihnen Geld schuldig war oder sich ihr Vermögen, ihre Häuser und Grundstücke aneignen wollte. Weil man von ihnen als Fremde dafür, dass man sie duldete, höhere Steuern verlangen konnte. Weil man ihnen als Fremde die Schuld an allem möglichen Unglück in die Schuhe schieben konnte, an der Pest, an verlorenen Kriegen, an Teuerung und Wirtschaftskrisen. Die Dialektik von Nutzen und Verfolgung zeigt sich schon früh in der Geschichte. Nur ein Beispiel: Während die Kirche im Judentum eine Konkurrenz fürchtete und es deshalb diffamierte, stellten die weltlichen Herrscher die Juden oft unter ihren Schutz — und kassierten Schutzgeld dafür (vgl. Ben Sasson 1981: 114-117). Das heißt, sie hatten ein Interesse daran, dass Juden da waren, und sie hatten gleichzeitig ein Interesse daran, dass sie verfolgt wurden. Die Geschichte der Juden ist keine Geschichte durchgehender Verfolgung. Juden wurden angesiedelt und vertrieben, geholt und wieder verjagt wie man es eben brauchte. Das Fremdmachen — etwa durch Kleiderordnungen oder durch Ghettoisierung — ermöglichte es, die Juden als Verschubmasse zu behandeln. Um die Dialektik von /denterest verständlich zu machen, lohnt es sich auch, die Geschichte der Juden mit der Geschichte der Roma zu vergleichen: Es war gut, dass Roma da waren, denn man brauchte Schmiede, Kesselflicker, Erntearbeiter, Pferdehändler usw. Und es war gut, dass sie von Vertreibung bedroht waren, denn so mussten sie Waren und Arbeitskraft billiger verkaufen. Die fanatischsten Verfolger sind nicht immer identisch mit den größten Profiteuren der Verfolgung. Es gibt Individuen, die aus psychologisch oder lebensgeschichtlich erklärbaren Gründen irrationale Aggression gegen „Andere“ hegen oder irrationale Angst vor ihnen haben. Es gibt Personen, die diese Individuen organisieren, ihre Aggressionen bündeln und schüren, um sich zu ihren Anführern zu machen. Das können Fanatiker sein oder auch zynische Karrieristen. Und es gibt Interessensgruppen, die die Fanatiker gewähren lassen, weil sie auf unterschiedliche Weise von der Verfolgung der Verfemten profitieren. Die deutsche Großindustrie hat Hitler nicht an die Macht gebracht. Doch als er an der Macht war, hat sie sich mit ihm arrangiert, weil sie Interesse an einem Eroberungskrieg hatte (vgl. Tooze 2007: 22-23; 127-129). Im Identerest Hießen rationale und irrationale Strebungen zusammen. Die Idee von der „Herrenrasse“ war 30 ZWISCHENWELT irrationaler Wahn. Doch rational denkende Menschen haben in ihre Geschäftsbücher geschaut und sich gesagt: „Gegen diesen Wahn haben wir nichts“. Der Antisemitismus der Nationalsozialisten kann nicht verstanden werden ohne Zusammenhang mit dem Eroberungskrieg und der Errichtung der Diktatur. Dabei kommt es gar nicht darauf an, ob die Führer diese irrationalen Stereotypen wirklich glaubten oder ob sie zynisch Lügen in die Welt setzten. Der Antisemitismus erfüllte verschiedene miteinander verbundene Funktionen: Schuldzuweisung für den verlorenen Krieg und die Wirtschaftskrise; die Spaltung der ArbeiterInnenbewegung, die Begründung für die Zerschlagung der linken Parteien, die alle als Teil der „Jüdisch-Bolschewistischen Verschwörung“ dargestellt wurden; Selbstdarstellung der NSDAP als Arbeiterpartei gegen das „jüdische“ Finanzkapital; Diffamierung der Demokratie als „Judenrepublik“ und Rechtfertigung der Diktatur; er war Teil der umfassenden Herrenrasse-Ideologie, die den Raubkrieg rechtfertigen sollte; er konstruierte einen inneren Feind in Verbindung mit einem äußeren Feind, dem „Weltjudentum“ und sollte das „Volk“ gegen diesen Feind hinter dem Führer zusammenschließen. Die Beraubung der Juden half, die Kriegskasse des ständig am Rand der Zahlungsunfähigkeit stehenden Regimes aufzufüllen. Die Verdrängung der Juden aus Verwaltung und Wirtschaft und die „Arisierung“ diente aber auch dazu, einen großen Teil der Bevölkerung zu bestechen: durch die Entfernung der jüdischen Konkurrenz, durch die Freimachung von Wohnraum usw. Damit schufsich das Regime Komplizen (vgl. Mönninghoff 2001). Und gab ihnen einen Vorgeschmack auf spätere Bereicherungsmöglichkeiten im zu erobernden Osten. Auch in den von den Deutschen besetzten Gebieten konnten sich Teile der Bevölkerung an der Beraubung der Juden beteiligen und bekamen so einen Anreiz, mit den Besatzern zusammenzuarbeiten (vgl. Stengel 2007: 16). Doch in den Empfehlungen des Leo-Baeck-Instituts, in den Broschüren von Yad Vashem oder erinnern.at findet sich kein Hinweis auf den Zusammenhang zwischen Antisemitismus, Diktatur und Krieg. Die Vertreibung und Vernichtung der Juden scheint das alleinige Ziel der Naziherrschaft gewesen zu sein - und bleibt so unerklärbar und mysteriös. „Der Holocaust war |...] die praktische Konsequenz aus einem virulenten Antisemitismus“ heißt es im Leitfaden für PädagogInnen von OSZE und Yad Vashem (OSCE/ODIHR/Yad Vashem 2007: 24). Nein, der Holocaust war die Konsequenz der antisemitischen Politik der Nazis, nicht von Hass und Vorurteilen. Auch im Holocaust selbst floss die Irrationalität mit rationalen Interessen zusammen. Fanatische Judenhasser konnten ihrem Wahn freien Lauf lassen, Sadisten und Sadistinnen sich ausleben, seelenlose Bürokraten Karriere machen, gewissenlose Wissenschaftler Experimente an Menschen anstellen, korrupte Funktionäre aufallen Ebenen sich bereichern. Doch der Holocaust war auch Teil des Plans, ganze Landstriche Osteuropas zu entvölkern, um Raum für deutsche Siedler zu schaffen, die dann die Kornkammer eines die Weltwirtschaft beherrschenden Reiches bewirtschaften sollten. Im Rahmen dieses Plans sollten auch 30 Millionen RussInnen dem Hungertod preisgegeben werden. Der gesamte Eroberungsfeldzug im Osten war völkermörderisch (vgl. Heinsohn 2000: 420-421). Der Ermordung der Juden war die Ermordung der Kranken vorangegangen. Ein Verbrechen, geboren aus dem Wahn der „Rassenhygiene“, das aber eben auch 70.000 Krankenbetten für Soldaten freimachte (vgl. Aly 1995: 53). Vorangegangen war auch die Ermordung von 60.000 Polinnen und Polen - nicht nur