OCR
Helene Scheu-Riesz Der Jugend Neue Freie Presse, 11. November 1923, 11 Die Herrscher aus alten Tagen Verwirkten ihr Herrscherrecht: Die Welt, die sie zerschlagen, Harrt auf ein neues Geschlecht. Die Welt, die in Qual sich windet, Gebiert eine neue Zeit — Daß sie neue Menschen findet. Ihr Jungen, seid ihr bereit? Von unsichtbaren Heeren Seid ihr noch rings bedroht — Es gilt jetzt, euch zu wehren Gegen den geistigen Tod. Wie heilig auch und teuer Euch das Errung’ne sei, Die Freiheit ist noch nicht euer, Der Weg nur ist euch frei. Aus eures Herzens Tiefe Holt ihr sie erst hervor — Die Stimmen, die sie riefen, Waren nur Pochen ans Tor. Nun sollt ihr selber rufen Helltönend, froh und laut, Indes ihr legt die Stufen Zum Tempel, den ihr baut: „Zurück, ihr Halben und Lauen, Machtgierig, leer und klein! Ihr sollt nicht mit uns bauen, Nicht länger uns Führer sein. Aus euren flackernden Mienen Spricht Eigensucht und List — Der Freiheit kann nur dienen, Wer reinen Herzens ist. Wir wollen uns erheben Aus seelenlosem Streit, Und rein dem Licht zustreben Und der verheißenen Zeit.“ 40 ZWISCHENWELT Erschienen mit der redaktionellen Vorbemerkung: „Zum zwölften November, dem Nationalfeiertag, sendet uns Helene Scheu-Riesz nachstehendes stimmungsvolles Gedicht“. Nachgedruckt in: Eckart Früh (Hg.): Es lebe die Republik! Sozialdemokratische Gedichte zum 12. November 1918. Wien 1998, 13. Helene Scheu-Riesz hat sich ihr ganzes Leben lang darum bemüht, dass Menschen zu Büchern kommen, vor allem die Jungen und die Kinder aus armen Familien sollten mit guter, internationaler Literatur versorgt werden. Für die in jeder Hinsicht ausgehungerten Nachkriegskinder hat sie dann auch die „Sesam Leseräume“ gegründet, in denen man Bücher lesen und Kakaomilch trinken konnte. 1922 gründete sie den „Sesam-Verlag“. Die Bücher wurden teilweise von namhaften KünstlerInnen und von vom Künstler Franz Ei_ck betreuten Kindern illustriert wurden. Viele der Bücher übersetzte Helene Scheu-Riesz auch selbst, so 1923 „Alice im Wunderland“, so wie die Märchen aus aller Welt, welcher in der Reihe „Irgendwo und irgendwann“ erschienen. Der erste Band der Märchenreihe war bezeichnenderweise ein Sammelband arabischer Märchen mit dem Titel „Ali Baba und die vierzig Räuber“, hatte der Verlag doch seinen Namen dem „Sesam öffne dich“ zu verdanken. Für die SesamBücherei übersetzte u.a. die Anglistin Paula Arnold. Als Helene Scheu-Riesz 1934 aus Österreich flüchten musste, führte sie ihre verlegerische Arbeit in New York mit den Verlagen „Island Press“ und „Sesam Books“ fort. Sie war seit 1904 mit dem Rechtsanwalt Gustav Scheu verheiratet. Dieser hat nicht nur als sozialdemokratischer Gemeinderat für Ottakring und als Stadtrat mafsgeblich die Baupolitik des Roten Wiens mitgeprägt, sondern hat auch als Förderer von Adolf Loos, Arnold Schönberg und Alban Berg zum engen Kreis um Eugenie Schwarzwald gehört. 1904 erschien auch Scheu-Riesz‘ erster Roman Sie schrieb für die Zeitungen „Neue Freie Presse“, „Neues Frauenleben“, „Der Morgen“ und „Arbeiterinnen-Zeitung“, war in der Frauen- und Friedensbewegung aktiv. Sie sollte 1954 aus dem Exil nach Österreich zurück kehren, wo ihr Sohn Friedrich Scheu für die „Arbeiter-Zeitung“ arbeitete. Sie starb 1970 im Alter von 90 Jahren in Wien. Weitere Literatur: Siglinde Bolbecher, Konstantin Kaiser: Lexikon der österreichischen Exilliteratur. Wien, München 2000, 569. Susanne Blumesberger (Hg.): Helene Scheu-Riesz (1880 — 1970). Eine Frau zwischen den Welten. Wien 2005. — A.E.