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Sebastian Der 12. November Der Abend, 10. November 1928 Zum Frühstück gab's irgend ein dunkles Gebräu Mit Saccharin. Aber der Himmel war jeden Tag neu Mit kleinen, zärtlichen Wolken drin. Den einen Bruder schossen sie tot, Der andere kam heim — ohne Fuß und Hand. Mittags bloß Rüben und gar kein Brot. Und das alles war für das Vaterland! Aber das Vaterland, das war nur ein Wort, Und hinter dem Wort stand gedrillter Mord, Mord an Millionen und Abermillionen, Stacheldraht, Grippe, Hunger, Kanonen, Kriegsberichte und Leichen und Fliegen, Phrasen von siegen und unterliegen. Gott erhalte ohne Wollen und Sinn, Brot mit Würmern und Brot aus Heu. Aber der Himmel war jeden Tag neu, Groß und mit drohenden Wolken drin. Und dann zerbrach alles. Vaterland, Krieg, Gerechte Sache, heiliger Sieg, Von Kaiser und Herrgott gewolltes Geschick... Wir wollten, WIR! Corina Prochazka Wir Kanonenfutter, Wir Angstschrei einer gemarterten Mutter, Wir Knechte, das Joch auf geneigtem Genick, Wir Ungeliebten und wir Gemußten, Wir endlich Erwachten und endlich Bewußten. Wir wollten und wurden: die Republik. Das Gedicht findet sich nachgedruckt in: Eckart Früh (Hg.): Es lebe die Republik! Sozialdemokratische Gedichte zum 12. November 1918. Wien 1998, 30. — Wer aber war Sebastian? Sebastians richtiger Name war Rosa Kraus, eigentlich Dr. Rosa Kraus. Viel ist über die Lyrikerin und Journalistin von „Der Abend“ nicht zu erfahren. Sie hat Ende der 1920er-Jahre für die Zeitung gearbeitet, wurde jedoch nach dem krankheitsbedingten Rückzug des Gründers Carl Colbert 1929 entlassen. Über ihren arbeitsrechtlichen Prozess gegen „Der Abend“ wurde vor allem in der rechts-bürgerlichen Presse, wie der „Reichspost“ und dem „Neuen Wiener Journal“, berichtet. Wieso man so ausführlich über den Prozess berichtete, steht im letzten Satz eines Artikels im „Neuen Wiener Journal“: So sieht die Arbeitsgemeinschaft des sozialistischen „Abend“ in der Praxis aus! Man nutzt einen Mitarbeiter erst gründlich aus und versucht ihn dann, ohne seine gesetzlichen und vertraglichen Ansprüche zu erfüllen, einfach an die Luft zu setzen. (Neues Wiener Journal, 24. April 1929, 13) In diesen Berichten wurde jedenfalls die Identität hinter dem Pseudonym „Sebastian“ gelüftet. — A.E. Das Reisebuch des Wiener Kindes Als in Wien eine Hungersnot ausbrach kamen viele Kinder in die Schweiz. Unter denen war auch ich dabei. Als ich die frische Luft dort spürte und atmete da war es mir wohl. Alles kam mir schöner vor als zu Hause. Alle Tage war schönes Wetter. Ich ging jeden Tag wenn die Sonne schien auf die Wiese und ließ mich von der Sonne braun werden. Aber die Wangen wurden nie rot. (Hilda, 9 Jahre) Stockenpresser ID: Wien lebwohl! (Farbzeichnung). In: Anna Nussbaum, Else Feldmann: Das Reisebuch des Wiener Kindes. Eine Sammlung von Briefen, Aufsätzen und Zeichnungen der Wiener Schulkinder im Ausland. Wien 1921, Titelseite Liebe Eltern, Ich bin in ein Herren-Modeartikelgeschäft gekommen. Gegen Wien ist hier das Schlaraffenland. In den Fleischläden hängen Schweine, Kälber und Ochsen in Hülle und Fülle. Auch Milch, Käse, Butter ist hier in den Geschäften von feinster Sorte. Mir geht es sehr gut. O wie möchte ich mich freuen, wenn auch Ihr hier währet. Eure Marianne (10 Jahre, Holland) 1921 erschien unter dem Titel „Das Reisebuch des Wiener Kindes“ in einem Wiener Verlag eine Sammlung von Zeichnungen, Briefen und Aufsätzen von Kindern, die nach dem Ersten Weltkrieg im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen von Pflegefamilien in verschiedensten europäischen Ländern aufgenommen worden waren. Dieser sogenannten „Kinderverschickung“ gingen Berichterstattungen in der internationalen Presse voraus, welche die katastrophale Versorgungslage in Österreich, und vor allem in Wien, einer größeren Öffentlichkeit bekannt machten. Die Nahrungsmittellieferungen für Wien kamen vor dem Krieg hauptsächlich aus Ungarn, Böhmen und Mähren, während des Krieges verringerten sich diese, nach Kriegsende wurden sie gänzlich eingestellt, ohne dass neue Zulieferer an ihre Stelle getreten wären. Die Reserven der durch den Krieg stark geschädigten Juli 2019 41