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deutsch-österreichischen Landwirtschaft verblieben zu einem großen Teil in den Bundesländern, so dass die Lebensmittelrationen in Wien stetig gesenkt wurden. Besonders betroffen davon waren Kinder und Jugendliche, wie etwa der enorme Anstieg der Kindersterblichkeitsrate in den Jahren von 1914 bis 1919 zeigt. Eine Untersuchung des städtischen Jugendamts im Jahr 1918 ergab, dass 91% der 200.000 Wiener Schulkinder als unterernährt einzustufen waren. Die Unterernährung machte die Kinder und Jugendlichen schließlich auch anfälliger für Mangelerkrankungen, es kam zu einem sprunghaften Anstieg von Rachitis und Tuberkulose. Die humanitären Hilfsaktionen gingen zunächst von den neutralen Staaten aus, ab 1920 beteiligten sich aber auch die Alliierten, sogar Deutschland und ehemalige Kronländer der Donaumonarchie an diesen Maßnahmen. Die Initiative für diese Hilfsaktionen ging aber durchgehend von nichtstaatlichen, religiösen oder privaten Einrichtungen und Vereinen aus, die auf altbewährte Organisationsformen zurückgriffen und diese international koordinierten. Die Anmeldung der Kinder erfolgte durch die Eltern oder Fürsorgestellen, daraufhin wurde die Bedürftigkeit geprüft und die Kinder Pflegeeltern zugeteilt. Hauptaufnahmeländer waren die Niederlande, Ungarn, die Schweiz, die Tschechoslowakei, Deutschland und Dänemark. In den Jahren von 1918-1924 wurden so insgesamt über 300.000 Wiener Kinder zur Erholung ins Ausland geschickt, oft auch für mehrere Jahre. Das in diesem Zusammenhang entstandene „Das Reisebuch des Wiener Kindes“ wurde in der „Wiener Zeitung“ vom 1. September 1921 in einer Besprechung von Emil Reich vorgestellt: Reiseeindrücke Wiener Kinder. Zwei österreichische Frauen, wahre Kinderfreundinnen, unternahmen es, Briefe von Wiener Kindern zu sammeln, die diese aus der Fremde an ihre Eltern richteten; dazu kamen Aufzeichnungen aus Tagebüchern, kleine Aufsätze, etliche Zeichnungen. Welche Fülle von Eindrücken waren auf viele kleine Wiener eingedrungen? Wie viele kleine Wiener gerieten plötzlich durch den humanen Sinn des Auslandes in eine Umgebung, in der es keine Not, keine Entbehrung, kein Elend gibt! Dr. Anna Nufßbaum und Else Feldmann, die Herausgeberinnen dieser Sammlung, haben diese kleinen, unscheinbaren, aber herzenstreuen und empfindungsvollen Dokumente aus Kindesseelen zu einem anmutigen Buche zusammengetragen; der junge Wiener „Gloriette“-Verlag hat aus der Sammlung ein „Reisebuch des Wiener Kindes“ gemacht und das Erträgnis der Kinderausspeisung in Wien und der Fürsorge für tuberkulöse Kinder gewidmet. [...] Man sollte gar nicht glauben, welch scharfe Beobachter Kinder sein können. Eine Leitmelodie geht durch alle die kindlichen Aufzeichnungen: Die kleinen Reisenden haben keinen Hunger mehr. Immer geht es um das Essen. Und dann noch eine Wahrnehmung, die der Treue und Verläßlichkeit nicht gerade das beste Zeugnis ausstellt, nämlich wie rasch sich die Kinder einleben und wie rasch das mitunter heftig auftretende Heimweh, die schmerzlichste Sehnsucht verflogen sind. Noch charakteristischer, tiefer in die kindliche Seele eindringend sind die Zeichnungen, die von kindlichster Unbeholfenheit, mitunter aber auch von unverkennbarem Talent erfüllt sind. Man sieht beispielsweise eine Fischersfrau aus Bunschoten oder eine Strafe im Regen, kurzweg „Holland“ benannt, oder Hedis „Ferienschule‘, die entzückend sind. Kinderfreunde finden in diesem hübschen, geschmackvoll ausgestatteten Buche sicherlich eine Fülle von Freuden und Anregungen. Ein reiches Erträgnis käme wieder fürsorgebedürftigen Kindern zugute. (-er) 42 ZWISCHENWELT Zusammengestellt wurden die Beiträge also von Else Feldmann und Anna Nussbaum, die beide im Jahr darauf, zusammen mit Alfred Adler, Leonhard Frank, Josef Luitpold Stern, Bela Baläzs, Otto Neurath, u.a. Mitbegründerinnen der Wiener Gruppe der „Clarte“, einer internationalen, von Henri Barbusse initiierten Vereinigung zur „Bekämpfung des Krieges und seiner Ursachen“ sein werden. Der Gloriette Verlag sollte in der kurzen Zeit seines Bestehens vor allem wegen eines Autors recht erfolgreich sein, nämlich Hugo Bettauer, von dem fünf Romane, darunter die Bestseller „Die freudlose Gasse“ und „Die Stadt ohne Juden“ in dem Verlag erschienen sind. Else Feldmann, Schriftstellerin (Löwenzahn, Der Leib der Mutter, u.a.), 1933 Gründungsmitglied der „Vereinigung sozialistischer Schriftsteller“, am 17. Juni 1942 im Vernichtungslager Sobibor ermordet, war u.a. als Verfasserin sozialkritischer Reportagen, etwa über das Jugendgericht in der Zeitung „Der Abend“ (1917/1918) oder über das „Wiener Kinderelend“ in den Arbeiterbezirken im „Neuen Wiener Journal“ (1919), in sozialpolitischen Fragen engagiert. Anna Nussbaum, in Galizien geboren, promovierte 1907 an der Universität Wien, arbeitete als Übersetzerin, schrieb Literatur- und Kunstkritiken, etwa für das „Neue Wiener Journal“, die „Neue Freie Presse“ und die Zeitung „Arbeiterwille“, und unterrichtete zeitweise Deutsch und Französisch an der Schule ihrer Tante Eugenie Schwarzwald. Im Nachruf, den Helene ScheuRiesz für die mit 44 Jahren jung Verstorbene in der Zeitung „Die Österreicherin“ 1931 verfasste, ist zu lesen: Dr. Anna Nufbaum, die kürzlich in noch jungen Jahren in Wien verschieden ist, hat an der österreichischen Frauenbewegung als Pazifistin aktiv teilgenommen; die Friedensbewegung unter den Frauen verliert in ihr eine ihrer treuesten und mutigsten Kämpferinnen. Als Übersetzerin und Bearbeiterin moderner und alter französischer Autoren hat sie für Völkerverständigung mit ganzer Seele gewirkt; ihre Schulausgaben französischer Klassiker in deutscher Sprache, wie etwa das Bändchen Rabelais, Gargantua und die pazifistischen Novellen von Maupassant, die sie der Sesam-Serie einfügte, waren eine literarische Tat. Ihre letzte überzeugende Leistung war eine Sammlung von Neger-Lyrik „Afrika singt“, in der sie die wundervolle Rhythmik einer erwachenden Nation unserm Kontinent ganz nahe bringt, nicht nur durch die zarte und mitlebende Übertragung, sondern durch die Auswahl jener sozialen Dichtungen, die uns gerade jetzt so stark ans Herz greifen müssen. Trotzdem Anna Nußbaum so jung scheiden mufste — ihre Spanne Zeit war doch ein erfülltes Leben. (Die Österreicherin, 4 (1931), 7 (Juli), S. 4). Es ist nicht verwunderlich, dass die beiden sozial und politisch engagierten Frauen Else Feldmann und Anna Nussbaum die Not der Wiener Kinder nach dem Ersten Weltkrieg als untragbar ansahen. Mit ihrem Sammelband verband sich darüber hinaus aber wohl auch das Anliegen, der österreichischen Bevölkerung die internationale humanitäre Hilfe als einen zutiefst solidarischen Akt bewusst zu machen. Diese Sammlung von Briefen, Aufsätzen und Zeichnungen, von denen einige in dieser Ausgabe von ZW abgedruckt sind, besitzt damit einen politischen Impetus, der den Glauben an eine internationale Solidarität, die gerade nach den Erlebnissen des Krieges von vielen als einzig mögliche Lösung für die Zukunft Europas erkannt wurde, befördern und stärken sollte.