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Literatur Isabella Matauschek: Lokales Leid — Globale Herausforderung. Die Verschickung österreichischer Kinder nach Dänemark und in die Niederlande Adelheid Popp Wir Frauen Vor zehn Jahren durften sich Frauen politisch nicht organisieren. Durch ein eigenes Gesetz waren Frauenspersonen von der Mitgliedschaft in politischen Vereinen ausgeschlossen, Das in so heißem Kampf eroberte allgemeine und gleiche Wahlrecht kam nur den Männern zu. Frauen wurden mit Verbrechern und Geistesschwachen in einem Atem als diejenigen aufgezählt, welche vom Wahlrecht ausgeschlossen waren. Deutschnationale Abgeordnete, in deren Parteivorstand heute mehrere Frauen sitzen, nannten die Frauenbewegung die scheußlichste aller Bewegungen, als unsere Genossen im alten Parlament politische Rechte für Frauen verlangten. Christlichsoziale, die in der Republik einer Frau die Würde einer Vorsitzenden des Bundesrates verliehen, waren noch 1918 höchstens dazu bereit, den Frauen das Gemeindewahlrecht für eine Frauenkammer zu geben, aber nicht zusammen mit den Männern. Ein Wiener Bürgermeister, ein christlichsozialer, bezeichnete Frauen, die für einen sozialdemokratischen Kandidaten Wahlarbeit geleistet hatten, als Dirnen, als Abschaum der Weiblichkeit, als Priesterinnen der freien Liebe. Die Frau in der Republik, das ist also die junge Generation unserer Parteigenossinnen, weiß das alles nicht. Die Stellung der Arbeiterinnen glich der von Lasttieren. Vor Entsetzen über die in einer Enquete aufgedeckte Not der arbeitenden Frauen erhielten einmal Gewerbeinspektoren den Auftrag, jene Berufe zu erheben, in welchen die Frauenarbeit aus gesundheitlichen und sittlichen Gründen ausgeschlossen werden sollte; sie nannten auch das Baugewerbe und die Beschäftigung an Transmissionsmaschinen. Die Unternehmer schrien auf, sie zitterten im voraus um den Unternehmergewinn, der ihnen durch den Verlust so vieler billigerer Frauenarbeit zu entgehen drohte. Und die Unternehmer, die Frauen an Iransmissionsmaschinen beschäftigten, gaben den für die damaligen Verhältnisse revolutionären Rat, die Arbeiterinnen sollten Hosen anstatt Röcke tragen, und die Arbeit werde für sie die Gefährlichkeit verloren haben. Wie wehrte man sich aber, den Frauen das Recht auf das Universitätsstudium einzuräumen! Medizinische Kapazitäten, Leuchten der Wissenschaft, hielten Vorträge und schrieben Broschüren, um nachzuweisen, daß die Frauen zu jedem Beruf taugen können, nur nicht gerade zu ihrem. Oberlehrer, Apothekergehilfen, Korporationen versammelten sich dagegen, daß man ihnen die Erniedrigung antun könnte, Frauen für ihren Beruf als fähig zu erachten. Der Spuk ist vorüber. Im Parlament und in den Gemeindestuben sitzen und beraten weibliche Abgeordnete mitten und neben den Männern. In den Schulen gibt es weibliche Direktoren, verdiente Lehrerinnen erhalten den Schulratstitel, Ärztinnen, Juristinnen, Geschworene und Schöffinnen, alles kann heute das weibliche Geschlecht werden. Die Verfassung kennt nur gleiche Bürger im Anschluss an den Ersten Weltkrieg. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2018. (Böhlaus Zeitgeschichtliche Bibliothek. 39), S. 65-71. Murray G. Hall: Östereichische Verlagsgeschichte 1918-1938. Band II. Belletristische Verlage der Ersten Republik. Wien, Köln, Graz: Böhlau 1985, S. 175f. ohne Unterschied des Geschlechtes. Wo die Frau zu klagen hat über Benachteiligung, dort ist nicht das Gesetz schuld, sondern das noch nicht beseitigte Vorurteil, die übernommene Vorstellung von der Minderwertigkeit der Frau. Rückständig und unwürdig ist noch die Stellung der Frau im Familienrecht. Die Frau ist zwar Abgeordnete, ist Geschworene, sitzt in Einigungsämtern, spricht Recht, heilt Kranke, ist eingedrungen in Ministerien und bekleidet, wenn auch höchst selten, verantwortliche Posten. Nur nach dem bürgerlichen Gesetz ist der Mann noch das Oberhaupt der Familie und entscheidet, welchen Berufen die Kinder sich zu widmen haben, die Frau hat seinen Namen zu tragen, an seinen Wohnsitz ihm zu folgen. Schon vor drei Jahren wurde dem Nationalrat eine Gesetzesvorlage unterbreitet, welche die Stellung der Frau im Familienrecht den modernen Anschauungen und den tatsächlichen Verhältnissen anzupassen versucht. Warum soll unter allen Umständen der männliche Teil das Oberhaupt der Familie sein? Warum auch dort, wo die Frau kraft ihres Einkommens die Trägerin der Familie ist? Warum der Mutter weniger Rechte bei der Bestimmung über die Kinder als dem Vater? Nicht aus Frauenrechtlerei, sondern um dem Recht Genüge zu tun, um von den vielen Frauen, die mitwirken an der Kultur unseres Landes und an unserer Volkswirtschaft, die als Erzieherinnen in Haus und Schule tätig sind, den Makel der Erniedrigung und der minderen Einschätzung zu nehmen, erheben wir am zehnten Gründungstag der Republik die Forderung, auch hier der freieren Auffassung endlich Raum zu geben. Das neue Geschlecht soll heranwachsen, erfüllt nicht nur von den Pflichten, sondern auch von den Rechten, die jedem selbstständigen, verantwortlichen, erwerbenden Menschen zukommen. Mit der Kraft, die der Glaube an die künftige sozialistische Republik uns verleiht, laßt uns kämpfen, daß an die Stelle des Unvollkommenen das Vollkommenste tritt. Man darf nicht nur genießen, was ist. Helft mit, der nächstfolgenden Generation ein neues Stück höherer Entwicklung zu erwerben. Erschienen 1928 in der Festbroschüre zum 10-jährigen Bestehen der Republik Österreich, herausgegeben von der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs, S. 13-14. Die Broschüre wurde von Josef Luitpolf Stern presserechtlich verantwortet und vermutlich auch redigiert, von dem Maler Otto Rudolf Schatz typographisch gestaltet, von der Wiener Volksbuchhandlung verlegt und von „Vorwärts“ gedruckt. Weitere Beiträge stammten von Karl Renner, Otto Bauer, Karl Leuthner, Julius Deutsch, Robert Danneberg. Juli 2019 43