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15 Jahre Republik Am 12. November 1933 bestand die demokratische Republik Österreich defacto nur noch auf dem Papier. Seit Anfang März hatte das Parlament nicht mehr getagt; am 15. März hatten Exekutivbeamte das Zusammentreten des Nationalrates gewaltsam verhindert. Am 16. März wurde der Republikanische Schutzbund in Tirol verboten, am 31. März in ganz Österreich. Am 11. September kündigte der Bundeskanzler Engelbert Dollfuß in der sogenannten Trabrennplatzrede bei einer Massenkundgebung der im Mai gegründeten „Vaterländischen Front“ den autoritären Standesstaates an. Jede Kundgebung oder Demonstration für den 12. November wurde verboten. Die linksliberale Montagszeitung „Der Morgen“ berichtete von diesem 12. November 1933, dem Tag, nachdem in Österreich am 11. November 1933 mit der Verkündung des Standrechts für Mord, Brandlegung ind öffentliche Gewalttätigkeit wieder die Todesstrafe eingeführt worden war. Die Republikfeier in Wien Der Morgen, 13. November 1933, S. 2 Der gestrige Republikfeiertag ist in Wien im allgemeinen ohne ernstere Zwischenfälle verlaufen. Freilich kam es an verschiedenen Stellen der Stadt zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitswache, bei denen insgesamt 225 Personen verhaftet und auch sozialdemokratische Funktionäre festgenommen wurden. An einigen Gebäuden wurden rote Fahnen gehißt, aber von der Sicherheitswache wieder entfernt. Die Nationalsozialisten hatten nur bescheidene Demonstrationsversuche unternommen, die von der Sicherheitswache im Keime erstickt wurden. Sozialdemokratischer Bummel in ganz Wien Knapp nach 10 Uhr begann dann in allen Teilen der Stadt der von Anhängern der sozialdemokratischen Partei veranstaltete Bummel. In allen Bezirken sammelten sich in den Hauptverkehrsstraßen Personen, die teils mit roten Nelken, teils mit den „Drei Pfeilen“ geschmückt waren. Besonders lebhaft gestaltete sich der Bummel in der Mariahilferstraße, Lerchenfelderstraße, Neubaugasse, Thaliastraße, auf der Simmeringer Hauptstraße, in Meidling, in der Brigittenau und in Floridsdorf. Der dichteste Verkehr herrschte auf der Landstraße-Hauptstraße, unmittelbar vor dem Restaurant Lembacher. Die Straßen, die von den äußeren Bezirken zum Ring des 12. November führten, waren durchwegs von Sicherheitswache besetzt, Wacheabteilungen zu Fuß und zu Pferd patroullierten umher, so daß die Demonstranten nicht bis zum Ring gelangen konnten. Die Sicherheitswache schritt überall schr energisch ein, und zerstreute auch die kleinste Ansammlung. Die durchwegs feierlich gesiimmten Demonstranten leisteten fast immer der Aufforderung der Wache folge, nur einzelne Unbesonnene wurden wegen Ordnungsstörung festgenommen. Gemeinderat Thaller leicht verletzt Nur im dritten Bezirk war die Simmung erregter. Die Spaziergänger wurden von der Sicherheitswache dreimal mit dem Gummtknüttel auseinandergetrieben, wobei eine größere Zahl von ihnen festgenommen wurde. Gleichfalls aus der Landstraße wurde der Landtagspräsident und sozialdemokratische Gemeinderat Ihaller durch Hiebe mit einem Gummiknüttel leicht verletzt. Friedrich Adler festgenommen In Favoriten wurde der Sekretär der Internationale, Friedrich Adler und der Chefredakteur des „Kleinen Blattes“, Julius Braunthal, von der Polizei angehalten. Sie wurden nach Aufnahme eines Protokolls auf dem Polizeikommissariat nach etwa eineinhalb Stunden wieder entlassen. Auf dein Neubau ließen die Demonstranten Bündel von Luftballons hochfliegen, die rote Plakate trugen. Rote Fahnen werden heruntergeholt An verschiedenen Gemeindebauten, auf dem Kuppeldach des Simmeringer Gaswerkes, auf der Lichtleitung nächst Simmering, am Lassallehof und in Döbling waren rote Fahnen gehißt worden. Die Polizei veranlaßte überall die Einziehung der Fahnen und beschlagnahmte die Flaggen. Die Bundesgebäude hatten rot-weiß-rote Fahnen gehißt. Das Parlament hatte aufbeiden Masten die Staatsflaggen hochgezogen. Nur auf dem Rathaus wehte nicht eine einzige Fahne. Vereinzelte Naziflaggen Die Nationalsozialisten hatten den Tag über nur wenig Propaganda gemacht. Es wäre ihnen auch keineswegs möglich gewesen, größere Aktionen durchzuführen, da die Straßen dicht mit sozialdemokratisch Gesinnten gefüllt waren, die demonstrativ ihre Parteiabzeichen trugen. So beschränkten sich die Nazi darauf, vereinzelt Hakenkreuze zu streuen und in der Kuffnerschen Brauerei in Ottakring auf einem 25 Meter hohen Schlot eine Hakenkreuzfahne zu hissen. Die Fahne war so befestigt, daß sie nicht sofort herabgeholt werden konnte. Obwohl Feuerwehr und Polizei ausrückten, konnte man den Schlot nicht ersteigen, da die Nazi sämtliche eiserne Stufen ausgebrochen hatten. Erst nachmittags wurde ein hohes Gerüst aufgestellt und dann die Nazifahne heruntergeholt. Hakenkreuzfahnen im 9. Bezirk an der Ecke Rögergasse-Schulz-Straßnitzky-Gasse und am Spielplatz in der Wasserburggasse wurden mit Leichtigkeit entfernt. Erregung in einer Straßenbahnremise In Hernals wurden der Hauptvertrauensmann der Straßenbahnremise, Bezirksrat Franz Etlinger, und Gemeinderat Karl Renner verhaftet und aufs Polizeikommissariat gebracht. Dort wurden sie nach einer kurzen Einvernahme sofort wieder entlassen. Inzwischen hatten sich in der Straßenbahnremise die wildesten Gerüchte verbreitet. Zum Glück kam in diesem Augenblick Bezirksrat Etlinger wieder zurück, so daß jeder Zwischenfall vermieden wurde. Das Schutzkorps aufgeboten Der Polizeipräsident hatte als Sicherheitsdirektor von Wien das Schutzkorps und die freiwilligen Assistenzkörper aufgeboten. Juli 2019 55