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NEUE TEXTE Hannah Menne Hier jedenfalls Ein Reisebericht Am Schienbein waren wir gelandet, am Schienbein von Italiens Stiefel, in Neapel. Die drei Kinder wussten schon Wochen zuvor, dass wir uns bis zur Sohle desselben hinunterhanteln wollten und dann weiter, über die Fußspitze zum Ball, den Italien wegkickt: Sizilien. Wir hatten zwei Ziele auf dieser Reise, das erste eine Insel, so klein, dass kaum Schiffe hinfahren im Spätherbst, weil es das vom Scirocco gebeutelte Meer oft nicht zulässt. Im Sommer hat diese Insel etwa 100 Einwohner, im Winter um die 30. Weil es kein Süßwasser gibt, wird es alle drei Wochen in einem Kontainerschiff angeliefert. Die ältesten Einwohner der Insel jedoch erzählen, dass in den 1950er-Jahren, als die Insel noch mehr als 2000 Bewohner hatte, genug Wasser für alle vorhanden war. Man sammelte das Regenwasser, füllte die Zisternen damit und kam das ganze Jahr aus. Wer etwas auf sich hält, macht das auch heute noch so. Ab der Gründung des italienischen Nationalstaats 1861 hatten die Süditaliener erstmals Zugang zu fließendem Wasser und ärztlicher Versorgung in Krankenhäusern, was die Kindersterblichkeit erheblich reduzierte. Eine extrem hohe Geburtenrate führte schließlich zu einer Überbevölkerung, infolgedessen hundert Jahre lang Millionen von Italienern auswanderten. Auf der Insel, meiner Insel, spricht man davon, dass sie in noch früheren Zeiten ein Zufluchtsort der Frauen gewesen sei. Sie versteckten sich vor der raubenden und mordenden Meute von Eroberern des Mittelmeeres. Mit Maultrommelklang und Geschrei verteidigten sie ihr Land. Alles, was auf den steilen steinernen Wegen heute transportiert wird, bewegen Mulis, es gibt keine einzige befahrbare Straße. Genau dort wollte ich hin, wo sich unter anderen Phönizier, Sarazenen, Spanier, Griechen, auch Odysseus höchstpersönlich samt seiner Winde herumgetrieben haben. Doch die Insel war erst unser zweites Ziel, die Belohnung sozusagen — und ich wusste nicht, ob es auch tatsächlich passieren würde dort zu landen, ob ich diesen Ort, den ich mir so überirdisch schön wegen seiner Einfachheit und Unaufgeregtheit vorstellte — ob dieser Ort auch wirklich existierte... Denn da war ja noch Riace. Ich hatte mir vor dem Aufbruch Aufzeichnungen gemacht — meine krakelige Handschrift ließ mich das eine Mal „race“ im Sinne von „Rasse“ lesen und dann wieder „race“ im Sinne von „Wettrennen“. Ob die Maschinengehirne von Online-Ubersetzungsmaschinen wohl wie mein eigener Kopf funktionieren und Vorschläge erstatten, wenn man „Riace“ im Suchfeld eingibt: Meinten Sie Rasse? Meinten Sie Wettrennen? Nein, ich meine diese Stelle am Ballen von Italiens Fuß, gerade ist er im Begriff wieder am Boden zu landen, an der Nordküste Afrikas. Wir haben uns etwas eingetreten: Einen Dorn oder einen 64 ZWISCHENWELT rostigen Nagel, jedenfalls etwas, das einen daran erinnert, dass man Schmerzen empfinden kann, dass es möglich ist zu fühlen und sogar mitzufühlen: Die Stadt, die berühmt wurde für ihren Umgang mit der Welt — die geadelt wurde als die Stadt der Zukunft. Ganz Kalabrien und Sizilien waren zum Zeitpunkt unserer Ankunft von Unwettern geplagt, bereits in Neapel lagen zahlreiche Bäume entwurzelt herum - in Süditalien waren ganze Straßenzüge im gebirgigen Aspromonte, den „rauen Bergen“ weggespült worden, eine Familie wurde von einem Fluss im Schlaf mitgerissen. Ich fragte mich: Sind es die Naturkatastrophen auf den Bildschirmen, in weit entlegenen Teilen der Welt, oder erst die Vorfälle unmittelbar vor unserer Tür, die uns schließlich betreffen? Wer erinnert sich noch an die Mafia-Morde von Duisburg, in deren Folge etwa 15 Menschen vor einer beliebten Pizzeria erschossen wurden: Big Business, irgendwas mit Ehre und Vergeltung und so — kommt aus Süditalien. In den Bergen dort unten versteckt sich’s gut. Und ja, da sind ja auch die großen Umschlagshäfen, Bananen, Rohöl, Kokain, der Norden wartet. Ein einziges Mal auf unserer Reise hatte ich Angst, meine Kinder aus den Augen oder überhaupt zu verlieren, in Reggio di Calabria, der Hauptstadt Kalabriens, wo wir ein Auto mieteten, um unsere Reise in die Provinz fortzusetzen. Das Gedränge auf der dortigen Einkaufsstraße, die toten Blicke der Gutgekleideten, über die erstorbenen Blicke der Bettelnden schweifend; grell erleuchtete Auslagen, Euro-Hits auf die Gehsteige hinauskotzend — - ein Kind bog unbeachtet um die Ecke, es hatte eine Eidechse erspäht und war weg. Ein Schrei und ein Gefuchtel später war es wieder da, im Hinterhof bei den rauchenden, am Boden hockenden Angestellten. Drei Safes hatten wir dort im Hotelzimmer, es verängstigte mich. Geld verstecken, Geschäftig-Tun, Gehen mit aufrechtem Kopf, wenn man schwere Koffer mit sich trägt, Geld in Safes verstauen. Aber: Das ist unsere erste Reise zusammen und ich würde mich nicht trauen sie zu machen, hätte ich nicht genug Geld dabei. Weil, was täte ich denn, würde ich stranden? Um diese Reise zu machen hin zu meinem Sehnsuchtsort, wurde mir Geld gegeben; ich hatte gemeint, ich würde nicht ohne die Kinder verreisen, niemals. Ich würde das erfahrene Glück und die Kraft nicht weitergeben können an sie, würden die Kinder nicht selbst die Erde betreten, dort, wo ich mir alles so schön ersann. Es geht ums Weitergeben — um das Verschiffen der Erfahrung, vom Süden in den Norden, von Unten nach Oben. Also sagte ich zu meinen Kindern: Es gibt dort auch ein Meer, aber das ist nicht das Wichtige — es ist eine Stadt, die berühmt ist, weil die Leute alle zusammenhelfen. Früher gab es viele verlassene Häuser, weil die Menschen alle ganz weit weg gezogen sind; in Italien war es schwierig gut zu leben, vor allem mit vielen Kindern. Doch dann hatte der Bürgermeister, er heifst Mimmo, die Idee, dass in den Häusern Menschen leben könnten, die