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kein Zuhause mehr haben. Sie haben die Häuser wieder hergerichtet und Obst und Gemüse angebaut, weil in den Gärten ist nur mehr Unkraut gewachsen. Der Bürgermeister hat die alten Besitzer der Häuser angerufen — er hat sie gefragt, ob er die Häuser verwenden und herrichten darf, ob andere Menschen drinnen wohnen dürfen — und wisst ihr was? Alle Leute haben „ja“ gesagt. Die Kinder nickten und wir waren aufgeregt, drehten das Autoradio lauter. Wir waren beinahe überall wo wir auftauchten eine seltsame Truppe. Ich spürte, wie hinter meine Schulter geschaut wurde: Da fehlt doch der Vater, oder zumindest eine weitere Person. Was bringt eine Mutter alleine mit drei Kindern dazu, hier herzufahren? Ich hatte die Hoffnung, auf Personen zu treffen, die so wie ich darauf hofften auf mich zu treffen — um sich zu bestärken —, den Dystopien des Alltags einen Kontrapunkt zu setzen, indem man nicht nur am Strand liegt oder Souvenirs kauft, sondern irgendwo sitzt und schaut, ob etwas passiert, das alles verändern würde. Einen Fuß hinsetzen und wieder gehen. Keiner würde mir, der Touristin vorwerfen, dass ich wieder fortgehe. Was soll ich denn dort schon tun? Den Flüchtlingen, den Geflüchteten, den neu Angekommenen, den Migranten oder Emigranten, je nachdem wer von ihnen über sie spricht, wird genau das aber schr wohl vorgeworfen. Sie hätten die Strukturen und Menschen in Riace und jene Italiens und auch Europas nur ausgenutzt, sich ausgeruht und seien wieder davongezogen. Auf alles vorbereitet sein wollte ich, will ich noch immer. Ich habe eingepackt: eine komplette Reiseapotheke, samt Fieberthermometer, Pflaster in allen Größen, Schmerzmittel für Erwachsene und Kinder, flüssig sowie in Tabletten- und Zäpfchen-Form. Aufladegeräte für Telefon und Ersatztelefon sowie für das Tablett, USB-Stick mit Pipi Langstrumpf. Adapter für den Zigarettenanzünder. Teller, Becher, Besteck. Taschenlampe, Buntstifte samt Spitzer. Zwei Blöcke, drei Kinderbücher, zwei Erwachsenenbücher, ein Wörterbuch. Acht Kuscheltiere, Picknickdecke. Zwei Kartenspiele. Karte der Reiseversicherung, Bankomatkarte, Kreditkarte. Visitenkarten, Kopien der vier Pässe. Die Kleidung für mich und die kleinen Kinder trage ich, sie tragen ihre Schlafsäcke und das Getier. 1998 waren in Riace die ersten Ankömmlinge Kurden, ein Boot mit fast 200 Menschen, Mimmo war zufällig am Strand, hatte ich gelesen. Anfangs waren es nur wenige, die er einlud, unterzukommen in seinem Dorf. Sie buken Brot in den Pizzabacköfen, die bereits halb verfallen waren. Sie begannen unter der Anleitung der vergreisten, stutzigen Dorfbewohner die Olivenhaine zu pflegen. Man webte wieder in alter Manier, aus Wolle und Ginster. Eine Schule wurde wieder eröffnet — die Kinder lernten Italienisch, die Erwachsenen lernten Handwerke und belebten eigene traditionelle Techniken der Stickerei, Holzverarbeitung, Glasbläserei wieder. Das Erzeugte wurde und wird über den dazu gegründeten Verein „Cittä futura“ verkauft. Sie arbeiteten wieder, also fühlten sie sich hernach müde. Sie lernten eine Sprache, also durchlebten sie die Begegnungen im Dorf. Sie wohnten unter einem dichten Dach, in der Langeweile eines befriedeten Landes, also wagten sie auch wieder Dinge zu besitzen. In einem gängigen Reiseführer wurde über den italienischen Bürgermeister geschrieben, dass er von allen nur „Mimmu u Curdu“, „Mimmo der Kurde“ genannt wird. „Nachhaltiger Tourismus“ wird da erwähnt in einem Satz, im nächsten, dass seine Hunde vergiftet wurden, mehrere Einschusslöcher seine Eingangstür zeichnen. Wir kamen an in Riace Marina, dem Vorort, unten am Meer und der Himmel lichtete sich. Die Kinder wollten raus aus dem Auto, die stundenlange Fahrt im Nieselregen endete auf dem Parkplatz zwischen Bahnhof und Apotheke. Ich erinnerte mich, dass ich eine Salbe brauchte für den Kleinsten, er hatte sich die ganze Fahrt über beklagt, dass ich „eine blöde Mama sei, weil ich das Brennen und Jucken nicht wegzaubern könne“. Die Frau in der Apotheke war allein, die Apotheke war schlecht beleuchtet und überall standen windschiefe Kartonfiguren, die grinsend für Jugend und Wonne warben. Ich bekam die Creme — beim Hinausgehen bewunderte ich noch die Körbe, welche neben der Tür standen. Sie waren randvoll mit irgendeinem Kraut — daneben ein Schemel, wo sich die Apothekerin wieder hinsetzte, um die Blätter weiter zu sortieren. Ich hörte meine Kinder, ihre Stimmen klangen aufgeregt. Ein toter Vogel sollte verscharrt werden, die Große sorgte für das Loch, die beiden Kleinen sahen sich nach Blumen und schönen Steinen um, um dem Vogel - einer Elster, wie ich feststellte — die letzte Ehre zu erweisen. Mein ganzes Leben lang war sie mein Glücksvogel gewesen, die Elster. Ich wollte es so und deshalb war es so. Begegnete mir eine, wusste ich, es würde gut gehen. Das Glitzern ist es, was sie anzieht, was sie anstiftet, Brillantring und Alufolie gleichsam mit sich zu tragen. Im englischen Sprachraum steht die Schwarz-weiße für Lebenskünstler, „for someone that knows how to shnorre“. In China sei sie eine, die die Toten begleitet. Mir war jedenfalls noch keine tote Elster begegnet bisher - doch Elster ist Elster — wir können ihre Gunst gebrauchen. Am dritten Oktober hatte man ihn verhaftet, den Bürgermeister. Seit dem Regierungswechsel in Italien im Frühjahr saßen die Feinde seines Tuns, seines selbstverständlichen Tuns an oberster Stelle. Man warf ihm illegale Machenschaften im Zuge seines Handelns als Bürgermeister vor. Er hätte das Fremdenwesen untergraben, Begünstigung illegaler Einwanderung betrieben und Fremde angeleitet, Strafbares zu tun — unter anderem zu heiraten, das warf man ihm vor. Auch Gelderunterschlagung war Teil der Anklage — doch diese Vorwürfe stellten sich schnell als unwahr heraus — und erhöhten somit den Thron, auf dem der gewaltsam Entfernte nun irgendwo festsaß. Der Papst sagte, er bewundere Mimmo für sein Handeln. Das Magazin Fortune setzte Domenico Lucano auf seine Liste der 50 einflussreichsten Menschen der Welt. Mitten am Dorfplatz hielt ich schließlich, ich setzte mich auf die Heckklappe des Autos und wechselte einem Kind die Schuhe, sie waren nass geworden bei der Elster-Beerdigung. „Ich will aber barfuß gehen!“, sagte es und ich ließ den Buben laufen. Der Teenager zog sich mit einem Buch auf dem Juli 2019 65