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Martha Meisl Die Angst In Erinnerung an den 13. Februar 1934 „Hast du noch Angst, Eva?“ „Nein.“ „Ich auch nicht. Hier hört man überhaupt nicht schießen.“ „Nein.“ „Nicht wahr, auf der Hofseite kann uns gar nichts passieren?“ „Nein, ich glaube nicht.“ Susanne seufzte erleichtert. Sie schlang die Arme um das kleine Kissen, das sie schr liebte und schloss die Augen. „Susanne, schläfst du schon?“ „Nein, was ist denn?“ „Hörst du nicht den Lärm?“ „Wart einmal, ja, jetzt hör ich. Was ist das?“ „Die Geheimtüre. Erinnerst du dich nicht? Die Türe ist offen, durch die einmal Hans und Erich gekrochen sind. Nachher kam der Inspektor. Ein unterirdischer Gang führt tief unter der Straße bis zur Donau.“ „Warum ist der jetzt offen?“ „Wahrscheinlich gehen Leute aus und ein.“ „Schrecklich. Hast du Angst, Eva?“ „Nein.“ „Ich hab vor denen draußen Angst, wenn sie schießen. Aber jetzt schießen sie nicht mehr.“ „Nein.“ Eva hörte jedoch noch etwas anderes. Sie hörte es bohren. Vor dem Schießen hatte sie keine Angst. Das war etwas Plötzliches, und im ersten Stock konnten sie keinen Menschen treffen, wenn man flach lag. Aber das Bohren. Eva hatte verstanden, was Mutter und Hanna leise miteinander geredet hatten. Hanna hatte erzählt, dass sie unten ein Loch bohrten und in dieses Loch werden sie Sprengpulver schütten. Dann wollten sie das ganze Haus in die Luft sprengen. Furchtbar. Und nun hörte sie auch das Geräusch. Sie bohrten. Susanne hatte ganz andere Ängste als sie. Eva versuchte sich Susannes Ängste vorzustellen. Wenn es einmal sehr stark regnete, standen sie beide am Fenster und starrten hinunter. Sie schauten, wie die Tropfen in die Pfützen sprangen und kleine Löcher rissen. Immer schneller und immer schneller, bis die ganze Lache von einer Gänsehaut bedeckt war. Und immer noch hämmerte es hinunter. Da bekam Susanne Angst. Sie wollte viel lieber im fünften Stock wohnen als im ersten. Dort wäre man sicherer. Ob die Sintflut nochmals käme? Sicher waren die Menschen böse genug. Und sie hätten keine Arche daheim, nicht das kleinste Boot. Bald werde die Donau über den Bahndamm springen und dann würden sich ihre gelbbraunen Wasser mit dem schwarzen Regenwasser vereinen. O, schrecklich. Eva konnte sich so gut vorstellen, wie das Wasser stieg und stieg. Erst verschwand das eiserne Geländer um die Waschküche, dann das große Tor, dann die Waschküche. Schließlich konnte sie vom Fenster aus in den Riesensce greifen, der unter ihr schwoll. Aber sie glaubte nicht an diese Gefahr. Sie glaubte auch nicht, dass ihr Haus umfallen könnte, wenn es fortregnete. Früher hatte es hier nur Gärten gegeben mit weicher Erde. Und wenn es nun so weiter regnete und die weiche Erde tief 68 _ZWISCHENWELT unten immer aufgeweichter würde, dann könnten die schweren Betonklötze nicht mehr ruhig stehen, sie beginnen zu sinken, der Fußboden wird schräg, das ganze Haus schwankt, und zuletzt rutscht alles durcheinander und bricht zusammen. Die Leute sprachen immer davon. Und früher einmal, ganz früher, vor den Gärten, hatte es hier ja überhaupt nur Weiden und Erlenbüsche gegeben, durch die sich bei Hochwasser Nebenarme der Donau fädelten, wie bei Klosterneuburg. Und auf solchem Grund hatte man Häuser errichtet! Aber Eva fürchtete sich vor dem Versinken nicht schr. Und gar nicht vor Gewittern. Wenn es blitzte und donnerte, durfte niemand in der Nähe des Fensters stehen. Susanne erlaubte es nicht. Es konnte immer einschlagen. Auf ihrem Haus gab es viele Blitzableiter, aber man musste auch an die Kugelblitze denken. Die rollten beim Fenster herein, durch die Scheiben, wie gebiindelte Sonnenstrahlen. Kleine, blitzende Kugeln. Sie kollerten im Zimmer umher und wenn siean einen harten Gegenstand stießen, dann zersprangen sie und zerschmetterten alles. Sie waren kalt und zündeten nicht wie die gewöhnlichen Blitze. Eva wollte gern einmal einen Kugelblitz sehen, aber Susanne fand den Gedanken grauenvoll. Eva fürchtete sich vor dem Auf- und Zuschlagen der Geheimtüre und vor dem Bohren. Denn sie hatte erst vor kurzem ein Buch gelesen über den Weltkrieg. Da saßen die österreichischen Soldaten in Gängen um die Gipfel der Dolomiten und hörten, wie die Italiener tief unten den Berg anbohrten. Sie hörten sie Tag und Nacht bohren und konnten sich ausrechnen, wann die Mitte erreicht sein würde. Wenn es so weit war, wurde es still und nun wusste jeder, was kommen musste, und konnte sich doch nicht helfen. Und es krachte, der Berg flog in die Luft und begrub die Soldaten. Dasselbe sollte nun auch mit ihnen geschehen. „Susanne, Susanne!“ schrie Eva. „Was hast du denn?“ fragte Susanne, heiser vom Schlaf. „Hörst du, wie sie bohren? Sie bohren ein Loch und schütten Sprengpulver hinein und sprengen das Haus in die Luft!“ Susanne richtete sich auf im Bett. Einen Augenblick lang saß sie ganz still. Dann begann sie zu rufen: „Mutter, Eva sagt, sie wollen uns in die Luft sprengen!“ und sie hüpfte aus dem Bett und lief hinaus. „Ich hätte es ihr nicht sagen sollen“, dachte Eva. „Nun hat sie Angst.“ Susanne kam zurückgetappt. „Mutter sagt, du spinnst. Sie bohren überhaupt nicht. Das bildest du dir nur ein.“ Eva schwieg. »Uberhaupt bist nur du schuld. Als wir von der Schule nachhause gingen, da hast du dich gefreut, weil die Straßenbahnen nicht gefahren sind. Endlich ist einmal etwas los. Vielleicht gibt es gar Revolution. Jetzt hast du’s!“ Eva schwieg. „Gute Nacht, Eva, und schlaf!“ „Gute Nacht“, antwortete Eva. Aber sie konnte nicht schlafen, denn wenn sie den Kopf ganz fest an das Kissen presste, hörte sie das Surren: Srrsrrv und ein hellerer Schnapplaut am Schluss: Srrri,srri.