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Sie drehte sich zusammen wie eine Kugel. Ihre Knie drückte sie eng an die Brust und ihre Finger schlang sie um die Fußknöchel. Srrusrrri. Zwischen jedem Surrer konnte sie manchmal bis zehn zählen, manchmal bis fünfzehn oder auch nur bis fünf. Die Gelenke begannen zu schmerzen. Nein, Schluss, das hatte keinen Sinn. Sie musste warten. Sie werden bohren und dann das Pulver hineinstecken. Wir werden alle in die Luft gesprengt. Vielleicht starben nicht alle. Ein paar Überlebende gab es immer. Das war dann besonders interessant. Wie ist es gewesen? Furchtbar. Erst hörte ich es surren, dann gab es plötzlich einen grässlichen Krach, alles schwankte, etwas fiel auf meine Stirne und ich verlor das Bewusstsein. Und die Mutter, und Hanna, Susanne und der kleine Walter? Eva ist jetzt mein einziges Kind, sagte der Vater, mein Ein und Alles. Nein, sie wollte nicht leben, wenn alle anderen tot waren. Nein, sie wird warten auf den Tod. Wie wird der Tod sein? Schnell sagte sie ein paar Gebete auf. Aber sie dachte nicht an ein Leben nach dem Tod. Es wird aus sein. Vorsichtig versuchte sie sich zu bewegen. Erst löste sie die Arme ganz langsam. Dann richtete sie den Rücken gerade und die Beine. Von der kleinen Zehe bis hin zu den Fingerspitzen streckte sie jedes winzigste Glied wie beim Turmspringen. Und dann ließ sie alle wieder los. Ganz wie sie wollte. Ihr Körper gehorchte. Ja, sie würde sterben. Sie freute sich schon darauf. Wie war das Sterben? Sie musste alles hergeben. Vor ihr schien sich ein weißes Tuch zu breiten, ähnlich einem Altar, aber doch anders; unendlicher. Es verfloss ringsum ins Nichts. Darauf legte sie nun alles: zuletzt den Vater, die Mutter und Susanne; denn die drei waren das Beste. Und Toni Wagner? Es war vielleicht eine schr dumme Liebe. Sie kannte ihn doch gar nicht und er war schon erwachsen und saß mit anderen Mädchen auf dem Fußballplatz, mit erwachsenen Mädchen. Manchmal grüßte er sie. Aber sie liebte ihn trotzdem. Ja, warum sollte sie nicht? Susanne würde sich wundern. Sie wird ihr morgen erzählen, dass auch ihre Liebe zu Toni Wagner auf dem weißen Tuch lag. Das war doch eine Art Bewährungsprobe für ihre Liebe, nicht? Aber morgen wird es ja nicht mehr geben. Und es durchschauerte sie noch einmal ein Beben und Pressen, es warf sie herum und schüttelte sie, und sie bäumte sich auf und biss in das kleine Kissen, um nicht zu schreien. Das durfte nicht wiederkommen. Langsam lösten sich ihre Glieder. Und es wurde ganz still und schr, schr licht. Eva dachte überhaupt nicht. Das Surren klang wie aus weiter, weiter Ferne. Es war sehr licht. In ihrem ganzen Leben war sie noch nicht so glücklich gewesen. Seltsam, all ihre Lieben lagen tief unten. Sie waren noch da, gewiss, aber nicht mehr deutlich und körperhaft; sie verschwammen mit dem weißen Tuch ins Unendliche. Es war nicht wie Schlaf. Sie war ja wach, ganz wach. Und doch gab es sie nicht mehr. Das Bett und die Decke oben, alles war fremd geworden. Nur das Licht in ihr war groß. Plötzlich spürte sie einen Riss. Warum kommt der Tod nicht? hieß der Riss. Warum sprengen sie nicht? Eva schüttelte die Arme, um sie wieder leicht zu machen. Es gelang ihr, still zu werden. Da zuckte wieder ein Riss durch sie. Vielleicht werden sie nicht sprengen? Vielleicht werde ich morgen leben? Und dieses Leben war plötzlich so süß und stark, es war besser als alles, es war da, durch all das Drängen schrie es in ihr: „Ich bin dreizehn Jahre alt, erst dreizehn, ich will leben, o, lieber Gott, lass mich leben! Ich mag dein Licht nicht, ich will leben!“ Eva beruhigte sich. Sie schleppte das Tuch herbei. Aber es war nicht mehr ein einziges Licht, das ins Unendliche floss. Es zitterte, wie die Luft manchmal zittert im Hochsommer über dem Getreidefeld. Und es war nicht mehr weiß, es verfärbte sich, wurde grau, zerfiel. Ich will leben. Sie werden vielleicht nicht sprengen. O, essurrt,srrri,srrri. Sie bohren, sie bohren. Das Tuch war ihr entglitten. Es war alles grau und wild wie der See im Sturmregen, ein leicht schäumendes Grau, das kam und ging, sich hob und senkte, und durch das das Bohren pfiff wie der Wind. Eva gab sich den Wellen hin. Kein Krampf krallte sie zusammen. Sie ließ sich schütteln. Sie zitterte. Ihre Zähne klapperten. Manchmal wurde sie stiller, wenn das Bohren längere Zeit ausblieb. Hin und wieder leuchtete es in ihr: warum bin ich nicht gestorben, als ich im Licht war? Was ist, wenn ich jetzt sterbe? Und dann schüttelte es sie stärker als zuvor. O, was für ein Unsinn! Warum sollte ich sterben! Alles zitterte. Der Boden, das Bett, jedes Glied. Was für dumme, romantische Gedanken sie gehabt hatte! Das Grauen war wirklich und das Beben. Aber das Licht war schön. Der Mond, dachte sie. Ihre Blicke hafteten ein paar Sekunden lang an dem Tischbein vor ihr. Es leuchtete matt. Aber es war nicht der Mond. Eva richtete sich auf. Der Himmel war licht. Es dammerte. Sie ließ sich ins Bett zurückfallen. Bohrten sie noch? Srrri,srrri. Immer noch. Aber es quälte weniger. Das Surren war eine kleine Feder, die durch ihren Körper rann, damit er nicht ganz ruhig wurde. Nicht mehr. Die Wände färbten sich hell, und nach dem weißen Tisch graute der Kasten aus der Finsternis hervor. Unendlich langsam wich das Dunkel, doch es wich. Srrri,srrri, Ruhe, Ruhe. Mutter spähte herein. „Die Kinder schlafen noch“, flüsterte sie. „Ich bin wach“, sagte Eva. Sie freute sich an ihrer Stimme. „Ich bin wach“, wiederholte sie. „Dann steh auf und zieh dich an. Du kannst uns beim Packen helfen.“ Während Eva die Füße auf den Boden setzte, wurde ihr schwarz vor den Augen. Aber bald konnte sie wieder stehen. Es war nur, als ob sie nicht selbst ging und trug und suchte und packte, sondern jemand Fremder, dem sie über die Schulter schaute. Am frühen Morgen verließen sie das Haus. Eva erkannte das Bohrloch unter ihrem Fenster. Und sie sah auch die Bohrmaschine, neben der ein finsterer Soldat stand. Vor dem Nachbartor lag ein Mensch. Sein Gesicht war ganz starr, aber nicht so finster wie das des Soldaten. „Geht, Kinder, geht schon!“ rief die Mutter und zog Eva fort. Susanne kam von irgendwo hervorgeschossen. Ihre Augen waren weit aufgerissen. „Sie sagen, er ist tot“, flüsterte sie. „Sie sagen, er ist tot.“ Sie blieb stehen und starrte Eva an. „Fühl, wie mein Herz klopft!“ sagte sie plötzlich und führte Evas Hand an ihre Brust. Und Eva stand und fühlte das Herz ihrer Schwester. „Glaubst du, es hat ihm wehgetan?“ fragte sie, während Evas Hand noch immer auf ihrem Herzen lag. Juli 2019 69