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Alexander Melach Steinerne Träume Für Ulrike Truger Steine bewegen die Feder auf dem Papier wie einen Seismografen, eine Linie entsteht - nicht zitternd auf und ab, sondern zügige Verschlingungen, die letztlich zu diesen geschriebenen Worten führen; Steine, die ihrerseits Indikatoren und Manifestationen von Vorgängen sind, die die Bildhauerin Ulrike Truger aufgespiirt und monumental verdeutlicht hat. Meine Absicht, einige dieser Steine in Worte zu fassen, wird von einem auftauchenden „Wir“ durchkreuzt, das mich irritiert, der ich bisher meinte, ohnehin auf der richtigen Seite zu stehen. Denn genau diesem selbstzufriedenen Wir werden die Steine in den Weg gestellt. Von einer, die ermutigt, uns einem Wir anzuschließen, das noch nicht fertig ist, noch lernen, noch werden darf. Traum am Karmeliterplatz ‘Traum, den du uns hinstellst, leihst, lodernde Flamme aus Stein, wo wir nur verglosen flatternd in der Windstille unserer Reglosigkeit, flackernde, helle Zunge, die uns souffliert, wo wir es verschlucken vor dunklen Fassaden, unseren Kulissen, zwischen denen wir stumm, über aufschreiende Pflastersteine eilen durch unsere Tage. Stein, geschmiegt dabei an unsere Atemlosigkeit, vertraut sich wiegend mit ihr für Augenblicke, in denen unsere erstarrten Träume Bewegung lernen vom Stein, den kein Sturm verweht. Wie sie, die ihre Hände, Arme, sich selbst als Ganze anvertraut hat diesem Stein, leichter als unsere Träume, von denen wir uns tragen lassen könnten, wie sie, die marmorn ihre Jahre werden lässt, damit wir schweben sollen ihren Steinen nach. Wächterin Reicht ein Stein? Was wiegt kein Stein? Worüber wachst du? Markierst du eine Grenze, sagst du: Hier bin ich! Hier! Hier! Hier! Hier! — Hier sollen wir merken: Wir verlassen unser freies Land! Doch wozu braucht ein Grenzstein selbst eine Gestalt? Noch dazu eine weibliche — die einer Wächterin? Ist es, weil wichtig ist, dass eine Frau dir die Gestalt gibt, sich selbst in Stein hier postiert? qualvoll im Flugzeug erstickten Asylanten Marcus Omofuma steht heute auf dem „Platz der Menschenrechte“ am Anfang der Mariahilferstraße in Wien-Neubau. 2003 stellte Truger das Denkmal ohne behördliche Genehmigung vor der Staatsoper auf und entfesselte damit einen Sturm herz- und hirnloser Empörung. Juli 2019 71