OCR
Lawrence Ferlinghetti Mohnblume aus Papier Eine Hommage des Dichters und Übersetzers Ernst Karner an den heuer 100-jährigen Beat-Poeten von San Francisco Ferlinghetti wurde 1919 in Yonkers/Bronxville, New York State, geboren. Der Vater war eingewanderter Italiener, die Mutter, geboren in Lyon, sephardischer Herkunft. Ferlinghetti wurde von Verwandten aufgezogen, verbrachte die ersten Jahre seines Lebens in Straßburg. Er studierte Journalismus, diente im Zweiten Weltkrieg in der Marine und setzte seine Studien in New York City und Paris fort. Überzeugter Pazifist, besuchte er Nagasaki nach dem Abwurfder Atombombe. 1951 Heirat mit Selden Kirby-Smith. Ab 1953 lebte er in San Francisco, eröffnete den City Lights Bookstore, verlegte 1956 Allen Ginsbergs „How/“, wofür er 1957 wegen Obszönität angeklagt, doch freigesprochen wurde. Ferlinghetti exponierte sichg auch als Gegner des Vietnam-Krieges. Zahreiche Auszeichnungen, u.a. 1998 fir zwei Jahre Poeta Laureatus in San Francisco. 2012 lehnte er den vom ungarischen PE.N.-Club ausgelobten, von der Regierung Orbän finanzierten Janus-PannoniusPreis ab. Etliche seiner Gedichte wurden vertont. Hund Der Hund trottet frei auf den Straßen und sieht die Realität und die Dinge die er sieht sind größer als er und die Dinge die er sieht sind seine Realität Betrunkene in Hauseinfahrten Monde auf Bäumen der Hund trottet frei die Straße hinunter und die Dinge die er sieht sind kleiner als er Fisch auf Zeitungspapier Ameisen in Löchern Hühnchen in Chinatown-Auslagen ihre Köpfe ein Block weit weg der Hund trottet frei auf der Straße und die Dinge die er riecht riechen irgendwie wie er der Hund trottet frei auf der Straße an Lacken und Babies vorbei Katzen und Zigarren Billiardsälen und Polizisten er haßt Polizisten nicht er hat bloß keine Verwendung für sie er geht an ihnen vorbei und an den toten Kühen die als ganzes aufgehängt sind vor dem San Francisco Fleischmarkt er würde eher eine zarte Kuh fressen als einen zähen Polizisten obwohl beides gehen würde und er geht an der Romeo Ravioli-Fabrik vorbei und an Coit‘s Tower und am Abgeordneten Doyle vom „Unamerican Committee“ er fürchtet sich vor Coit’s Tower aber nicht vor dem Abgeordneten Doyle obwohl was er so hört höchst entmutigend ist höchst deprimierend höchst absurd für einen traurigen jungen Hund wie ihn für einen ernsten Hund wie ihn aber er hat seine eigene freie Welt in der er lebt seine eigenen Flöhe die er frißt läßt sich keinen Maulkorb umhängen der Abgeordnete Doyle ist wieder nur ein Hydrant für ihn der Hund trottet frei auf der Straße und muß sein eigenes Hundeleben führen und daran denken und darüber nachdenken alles zu berühren zu kosten und zu testen alles zu untersuchen ohne Nutzen zu ziehen oder es umzumodeln ein wirklicher Realist mit einer wirklichen Geschichte die er zu erzählen hat und einem wirklichen Schwanz mit dem er sie erzählt ein wirklicher lebender bellender demokratischer Hund mit einem wirklich freien Unternehmen beschäftigt der etwas zu sagen hat über Ontologie etwas zu sagen über die Wirklichkeit und wie sie geschen werden soll und wie sie gehört werden soll mit seitwärts gestrecktem Kopf an den Straßenecken wie wenn gerade ein Foto für Victor Records von ihm geschossen werden sollte horchend auf His Master‘s Voice und wie ein lebendes Fragezeichen in das große Grammofon verstörender Existenz blickend mit dem wunderbar hohlen Trichter der immer so aussieht als würde aus ihm jeden Moment die Siegreiche Antwort auf alles hervorsprudeln Originaltitel: Dog. Aus: San Francisco Poems, 2001. Juli 2019 73