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Dichter, kommt heraus... Dichter, kommt heraus aus Euren Wandschränken, öffnet Eure Fenster und Türen, Ihr seid schon zu lange in Euren geschlossenen Welten eingegraben gewesen Es ist jetzt nicht die Zeit für den Künstler, sich oberhalb, außerhalb dessen, hinter dem, was um ihn herum vorgeht, zu verstecken, unbeteiligt, sich die Nägel trimmend, sich aus seiner eigenen Existenz hinausverfeinernd. Es ist jetzt nicht die Zeit für unsere kleinen literarischen Spielchen, für unsere Paranoia und unsere Hypochondrien, keine Zeit jetzt fiir Furcht und Abscheu, sondern nur fiir das Licht und die Liebe. Wir haben gesehen, wie die besten Köpfe unserer Generation durch Langeweile bei Dichterlesungen zugrundegerichtet wurden Originaltitel: Poets, come out of your closets. Aus: San Francisco Poems, 2001. Lawrence Ferlinghetti kommentiert das Gedicht 2001: Was ich in den 1970ern mit meinem „Populist Manifesto“ im Sinn hatte, war, daß die Dichter aufhören sollten, bei privaten Lesungen nur in ihren Bart zu murmeln, und statt dessen der Welt etwas Bedeutendes sagen sollten. Vor einigen Jahren hielt ich eine Rede in der Klasse von Michael McClure im Califonia College of Arts & Crafts, deren Titel lautete „Warum malst du nicht etwas Bedeutendes?“ (Es gab da ein Graffito an der Wand, das besagte „Du bist so minimal.) Es war jedenfalls der Versuch, die bildenden Künstler wie auch die Dichter aus ihrer hermetischen Welt herauszulösen. Ich muß hinzufügen, daß mein Manifest eine solche Kakophonie schlechter Dichtung nach sich gezogen hat, daß sich manche Herausgeber zu der Aussage bemüßigt fühlten: „Dichter, geht zurück in eure Wandschränke.“ Das Manifest war ein nicht schr origineller Whitmanscher Aufruf zu einer universellen Poesie — mit einer, wie ich es nenne, „öffentlichen Oberfläche“, d.h. eine Dichtung mit einer sehr zugänglichen, allgemeinmenschlichen Oberfläche, die von nahezu jedem ohne besondere literarische Bildung verstanden werden kann. Aber natürlich, wenn sie sich über die Ebene des Journalismus erheben soll, muß sie andere subjektive oder subversive Niveaus aufweisen. (San Francisco Poems, 2001, p. 17/18). Zwei Abfallentsorger im LKW, zwei schöne Menschen in einem Mercedes Vor der Ampel auf das Grünsignal wartend um 9 Uhr vormittags in San Francisco ein leuchtend heller Müllwagen und zwei Müllmänner in roten Plastikanzügen auf der hinteren Plattform auf jeder Seite einer hängend sie schauen in einen eleganten offenen Mercedes mit einem eleganten Paar darin der Mann in einem topmodischen dreiteiligen Leinenanzug und schulterlangen blonden Haaren und Sonnenbrille die junge Frau so locker frisiert in einem kurzen Rock mit färbigen Strümpfen auf dem Weg in sein Architekturbüro und die zwei Abfallbeseitiger seit vier Uhr früh auf den Beinen mißmutig von ihrer Tour auf dem Weg nach Hause der ältere der beiden mit stahlgrauen Haaren und einem Buckel schaut hinunter wie so ein aufgereckter Quasimodo und der jüngere von ihnen ebenfalls mit Sonnenbrille und Langhaar ungefähr so alt wie der Mercedesfahrer die beiden Abfallentsorger schauen wie von weit herkommend hinunter auf das coole Paar so wie wenn sie irgendeine denaturierte Werbung im Fernsehen sehen wiirden in der immer alles méglich ist und das sehr rote Licht halt alle vier fiir einen kurzen Moment nahe beisammen wie wenn überhaupt alles möglich wäre zwischen ihnen über die Kluft hinweg in dieser hochgehenden See unserer Demokratie Originaltitel: Two scavengers in a truck, two beautiful people in a Mercedes. Aus: San Francisco Poems, 2001. Juli 2019 75