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REZENSIONEN Dieses Ende: „Am 16. September 1942 wurde sie über das Sammellager Drancy bei Paris nach Auschwitz-Birkenau deportiert, wo sie wahrscheinlich unmittelbar nach ihrer Ankunft in den Gaskammern ermordet wurde.“ Der sinnlos-brutale Tod im Osten holt die Berlinerin aus Steglitz in Frankreich ein — eine Flucht durch halb Europa, bei deren Darstellung man wie so oft unwillkürlich immer noch gegen alles historische Wissen hofft, sie möge doch noch glücklich ausgehen. Lea Buck, geb. Buchhalter, war in BerlinSteglitz zuhause, sie betrieb mit ihrem Ehemann David einen Kleiderwarenladen in der heute wieder als „Einkaufmeile“ angesagten Schlossstraße im Berliner Südwesten. Das Paar war vor dem Ersten Weltkrieg in der Habsburgermonarchie geboren worden, in Galizien. Sie heirateten 1912 in Stanislawöw (Stanislau; heute: Ivano-Frankivsk), er war Soldat in der österreichischen Armee gewesen, nach der Heirat zogen sie in die Bukowina, wo sie bei Czernowitz in einem eigenen Haus lebten und David Buck als Verwaltungsbeamter arbeitete. Der Erste Weltkrieg bedeutete auch das Ende dieser Welt. Czernowitz an der östlichen Grenze des Reiches wurde mehrfach besetzt, das Haus der Bucks zerstört, der Offizier für vier Jahre in russische Kriegsgefangenschaft verschleppt, Lea flüchtete nach Berlin. Dort wurde nach der Befreiung des Ehemannes in der dem Laden nahen Feuerbachstraße 1923 ihr Sohn Julius geboren. Im Rückblick auf diese Zeit spricht er von einem „äußerst sorgenfreien Leben“. Er wusste nicht, dass er seit Kriegsende und Wiedererstehen des polnischen Staates als polnischer Staatsbürger geführt wurde. Julius besuchte das Paulsen-Realgymnasium in der nahen Gritznerstraße und bemerkte mit dem Direktorenwechsel 1933 den Umschwung der Verhältnisse, aber alle Versuche, die Eltern von der Notwendigkeit der Emigration zu überzeugen, scheiterten. Vor allem des Vaters Glauben an das Vorübergehende der nationalsozialistischen Diktatur und den vorgeblichen Schutz durch die Weltkriegsteilnahme machten die Einsicht in die Gefahr schwer. Diese viel sagende Geschichte der Familie Buck aus der Geschichte der Shoah haben Alina Bothe und Christine Meibeck anlässlich einer Ausstellung des Centrum Judaicum in Berlin in der Buchausgabe mit Fotos und Dokumenten belegt. Ausstellung und Buch widmen sich erstmals umfassend jener „Polenaktion“ vom Ende Oktober 1938, die, bisher kaum erforscht, den besonderen bürokratischen und logistischen Auftakt der Deportationen von 78 ZWISCHENWELT polnischen Juden aus dem nationalsozialistischen Deutschland bildete. Den historischen Hintergrund geben neben dem bereits bestehenden Verfolgungsdruck des Nazi-Regimes gegen Juden die besonderen Entwicklungen in Europa ab. Polen, 1918 als Staat aus den Trümmern des k.u.k.-Reiches neu erstanden, hatte im März 1938 nach dem „Anschluss“ Österreichs aus Furcht vor der Flucht polnischer Juden nach Polen ein neues Staatsbiirgergesetz verabschiedet: Alle nicht in Polen lebenden Staatsbiirger wurden aufgefordert, im Inland ihren Pass vorzulegen oder sie gingen der Staatsangehörigkeit verlustig. In einem der wissenschaftlichen Aufsätze vermutet Wlodzimierz Borodziej, dass dieses Gesetz sowohl eine antisemitische wie auch gegen die polnisch/französischen Teilnehmer auf der republikanischen Seite im Spanischen Bürgerkrieg gerichtete Absicht hatte und zitiert aus dem Protokoll einer Besprechung im polnischen Innenministerium: „Das Gesetz richtet sich hauptsächlich gegen die Juden, obwohl es hier und da, zum Beispiel in Frankreich, auch gegen die Kommunisten Anwendung finden wird [...]“. Die Historikerin Miriam Rürup weist für die Verhältnisse in Nazi-Deutschland andererseits nach, dass bereits das nationalsozialistische „Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen“ von 1933 die etwa 60.000 als polnisch identifizierten Juden in ihren Rechten schmälerte. Mit dem polnischen Gesetz vom Frühjahr 1938 wurden weitere Überlegungen der Nazis ausgelöst. So war im Oktober, als das polnische Gesetz veröffentlicht wurde, bereits weitgehend klar, dass es zu Ausweisungen kommen werde. Am 28. Oktober begann die Aktion frühmorgens: In Berlin wurden nur die Männer und männlichen Jugendlichen zum Gefängnis Alexanderplatz gebracht, in Hamburg aber auch Frauen und Mädchen erfasst. Vom Alexanderplatz wurden etwa 7000 Berliner polnische Juden nach Zbaszyn (Bentschen) an die Grenze gebracht. Da die polnischen Grenzer von der Maßnahme überrumpelt wurden, mussten die Deportierten die ersten Nächte im „Niemandsland“ zwischen den beiden Staaten verbringen. Erst dann wurden sie in den kleinen Ort gelassen. Der Fotograf und Kiinstler Wojciech Olejniczak aus Zbaszyn lässt in einem Gespräch erkennen, dass die Bevölkerung sich damals hilfsbereit zeigte und mit Unterstützung jüdischer Organisationen den Ausgewiesenen das Überleben ermöglicht habe. Für die Ausstellung montierte Olejniczak zahlreiche alte Glasnegative eines Fotografen aus Zbaszyn zu einer Collage von großer Suggestivität und Anschauungskraft zusammen. Sie sind ein Zeichen für jenes „Niemandsland“, das sich durch die Deportationen in Europa auszubreiten begann. Denn wie der Prager Historiker Michal Frankl in seinem Beitrag zeigt, hatte der „Anschluss“ Österreichs ähnliche Folgen auch an anderen Grenzen. Fin Donaukahn bei Theben wurde fiir aus dem Burgenland Vertriebene fiir Monate zur Aufenthaltsstatte zwischen angeschlossenem Osterreich, der Tschechoslowakei und Jugoslawien. Ähnlich in Tisos Slowakei nach dem 1. Wiener Schiedsspruch, der Teile der Slowakei an Ungarn angliederte: 7500 Juden wurden ausgewiesen, aber von Ungarn nicht aufgenommen. Sie kampierten wochenlang auf einem Feld bei Mischdorf. Durch die Tendenz der Ethnisierung der Staatsbürgerschaft wurden auch aus den Sudeten jüdische Bewohner auf die Flucht gezwungen. Wie in weiteren Fallbeispielen von Berliner Familien deutlich wird, ging die Verfolgung der Ausgewiesenen in Polen und Deutschland bald weiter. In Paris erschoss Herschel (Hermann) Grünspan einen deutschen Botschaftsangehörigen als Reaktion auf die Deportierung seiner Eltern aus Hannover - die Nazis nahmen dieses Attentat als Vorwand für die Reichspogromnacht am 9. November. Wem es in den nächsten Monaten nicht gelang, aus Polen zu emigrieren, wurde wie die Bucks aus Steglitz durch den deutschen Einmarsch in Polen im September 1939 tödlich bedroht. Der reich bebilderte Band lebt von der Verknüpfung der präzisen historischen Darstellungen mit dem eindringlichen Blick von Studierenden auf die Berliner Fallbeispiele, wie dem der Familie Buck oder des Kinderfilmstars Gerhard Klein („Emil und die Detektive“). Berühmtester Betroffener der Polenaktion dürfte Marcel Reich-Ranicki gewesen sein, der darüber in seinen Memoiren berichtet. Wie der Beitrag von Michal Frankl zeigt, sind nicht nur weitere Forschungen zu Deutschland, sondern auch zur Verbreitung des „Niemandslands“ in Europa erforderlich, um den Auftakt der Vernichtung des osteuropäischen Judentums präziser zu verstehen. Markus Bauer AUSGEWIESEN! Berlin, 28.10.1938. Die Geschichte der „Polenaktion“. Hg. von Alina Bothe und Gertrud Pickhan unter Mitarbeit von Christine Meibeck. Berlin: Metropol 2018. 396 S. mit zahlr. Abb.