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Andere Sorgen Die Mutter wohnt im Altersheim und die Stiefschwester hat eine eigene Familie samt anständigem Job. Daher fällt es der weniger gefestigt im Leben stehenden Ich-Erzählerin zu, aus der Großstadt anzureisen, um das nunmehr unbewohnte Haus ihrer Kindheit zu räumen. Die namenslose Protagonistin schreibt ab und an für eine Agentur, scheint aber sonst recht ungebunden zu leben: Aus Gedankensplittern und zerrissenen Gesprächen erfährt man, dass sie Adorno und Bachmann gelesen haben dürfte; dass sie Musik von Crywank oder Modest Mouse hört (und sing); dass sie unzufrieden ist mit dem, wie die Welt sich dreht. Alles Weitere ist das Geschehen weniger Tage. Im Altersheim herrscht Aufruhr, weil die Arbeitsbedingungen schlecht sind und die kirchliche Führung das Streiken mit dem Argument untersagt, dies widerspreche der christlichen Nächstenliebe. Zusammen mit den für revolutionäre Gesinnungen bekannten Mitgliedern der „Hauswilderei“ beginnt sich die Erzählerin neben ihrer Räumaktion mit den Anliegen im Altersheim zu befassen, schreibt für die Ortszeitung einen kritischen Artikel und wird alsbald als „Kommunistenschwein“ beschimpft. Schließlich tritt noch eine Frau mit dem vielsagenden Namen Malina (der slowenische Name für Himbeere bzw. ein Roman Bachmanns) in ihr Leben: Ohne jeden Anlass überfällt sie den Vater der Protagonistin (die dabei gebannt zusicht), wirft ihn zu Boden, verschwindet und taucht am Tag darauf wieder auf, um sich fortan öfter in den Gang der Dinge einzumischen. Diese Erzählstränge werden von Pressl zu einem mitunter spannenden, über Strecken auch langatmigen Geflecht verwoben, wobei sich die Beziehung der Erzählerin zu ihrer Antagonistin Malina zusehends als wesentlichster Knotenpunkt herausbildet. Letztere ist Mutter zweier Kinder, die Gattin eines Vollbart tragenden Mannes und versucht dem Trott ihres Lebens zu entkommen, indem sie dem Vater der Erzählerin einen Faustschlag verpasst, zusammen mit ihr dessen Garten „dekoriert“, nächtens das örtliche Freibad verunstaltet und bei der (vorgetäuschten) Entführung der Heiminsassen mitwirkt. Für die Schilderung dieser infantilen Späße gebraucht Pressl eine in bloßen Hauptsatzreihen sich fortbewegende Sprache, deren Unterténe Das Manuskript von Moriz Scheyers Flucht von Wien nach Frankreich blieb lange Zeit unveröffentlicht. Erst der Initiative von Scheyers Stiefenkelsohn Peter N. Singer ist die spate Publikation zu verdanken. Singer entdeckte einen Durchschlag des mit dem Vermerk „Ein Überlebender“ überschriebenen Manuskripts nach eigenen Angaben auf dem Dachboden seines Vaters. Er betreute den Text editorisch, versah ihn mit einem Kommentar und einem umfassenden Nachwort und veranlasste die Drucklegung. Das Buch erschien zunächst in englischer, dann in französischer, spanischer und italienischer Sprache und schließlich, 2017, auch in der Originalsprache. Nicht nur der Umstand einer verzögerten Drucklegung lädt zu einem Vergleich mit Karl Kraus ein, dessen 1934 niedergeschriebene „Dritte Walpurgisnacht“ ebenfalls erst Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs publiziert wurde. Während dem bereits herzkranken Kraus durch seinen Tod im Jahr 1936 der unmittelbare Kontakt mit der nationalsozialistischen Repression erspart blieb, musste der gleichfalls herzkranke Scheyer die lange Walpurgisnacht, deren fürchterliche Dimensionen Kraus erkannte und präzise beschrieb, selbst durchleben und durchleiden. Dass Kraus in friedlicheren Zeiten für den Kulturjournalisten Scheyer nur Spott und Häme übrig hatte, tut hier nichts zur Sache. Bemerkenswerter ist die durch Helene Kann überlieferte Überlegung von Kraus, im Fall der Fälle ebenfalls ins Pariser Exil gehen zu wollen. Wie es Kraus dort vielleicht ergangen wäre und 82 — ZWISCHENWELT wie es Scheyer tatsächlich erging, darüber gibt dieses Buch Auskunft. Niedergeschrieben wurde der Text in den Jahren 1943 bis 1945 in einem abgelegenen französischen Franziskanerinnenkloster, in dem das Ehepaar Scheyer und die Wiener Haushälterin, die dem Ehepaar nachreiste, ab Herbst 1942 schließlich ein Versteck fanden. Bei Anzeichen von Gefahr unterbrach Scheyer die Arbeit und vergrub die Seiten im Wald, um sich und sein Umfeld nicht zu gefährden. Eben diese Entstehungsumstände machen den Bericht, der ausdrücklich nicht „Literatur“ sein will, zu einem „atemberaubenden“ Dokument im wörtlichen Sinn. Es handelt sich nicht um Reflexionen aus sicherer zeitlicher Distanz und gesicherter Existenz, sondern um ein authentisches, auch nach dem Krieg nicht überarbeitetes Manifest, das den Zustand des Gehetztseins und der nicht und nicht enden wollenden Existenzangst in sich aufgenommen hat. Der Verfasser spart nicht mit kritischen Bemerkungen und Ausfällen gegenüber seinen Verfolgern, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen — „antideutsche Ressentiments“ waren der Grund, warum das Manuskript von Scheyers Stiefsohn zurückgehalten wurde. Der Text ist ein persönlich durchlebter Horrorroman, der dem Leser und der Leserin nur deswegen erträglich bleibt, weil man um den glücklichen Ausgang weiß: Moriz und Grete Scheyer sowie die Haushälterin Släva Koläfovä sollten, obgleich schwer gezeichnet, den Krieg überleben. gerade dann, wenn es langweilig zu werden droht, eine beängstigende Tiefe im seichten Geplauder erahnbar machen. So erweist sich der betont ironische, fast zynische Ton als Oberflächengewaber, hinter dem die Angst, die Trauer und der Zorn einer Frau toben, die kaum noch Anschluss findet an die Dinge um sie herum. Diese ironische Färbung macht aber die Lektüre auch zur Geduldsprobe. Es dauert oft zu lange, bis man zu einer Pointe gelangt, die den bis dahin gegangenen Weg in ein Licht taucht, in dem er sich als abwegig erweist. Weiters zehrt das Buch zu sehr von seinen letzten Seiten, die allem zuvor Geschehenen ein völlig anderes Gepräge verleihen. Katharina Pressls Romandebiit ist eine vielversprechende Probe für ihr Talent sowie ein hellsichtiger Kommentar zur psychischen Lage derer, die nicht funktionieren in unserer Welt. Vor ihrer „lustigen“ Sprache aber sei gewarnt: Sie ist auf die Dauer nur schwer zu ertragen. Franz Schörkhuber Katharina Pressl: Andere Sorgen. Salzburg, Wien: Residenz 2019. 181 S. € 20,Der (vom Rowohlt-Verlag gewählte) Titel „Selbst das Heimweh war heimatlos“ bezieht sich auf einen Satz vom Beginn dieser Odyssee. Er spiegelt die Enttäuschung des Verfassers über die blitzartige Verwandlung des heimatlichen Wien im März 1938 in einen fremden und abweisenden Ort. Zwar blieb Scheyer, dem Feuilletonchef des „Wiener Tagblatts“, im Unterschied zu einigen seiner Kollegen die unverzügliche Deportation nach Dachau erspart. Die mit dem Machtwechsel einhergehenden persönlichen Ent-Täuschungen hingegen, also das, was Hannah Arendt in den Satz „Man erlebt jeden Tag die Überraschung seines Lebens“ gefasst hatte, begleiten Scheyer fortan. Besonders enttäuscht zeigt er sich vom Verhalten einstiger Mitarbeiter und vom intellektuellen Umfeld, in dem er sich zuvor mit dem Selbstbewusstsein eines einflussreichen Kulturjournalisten und Schriftstellers bewegte. Herabwürdigungen und Demütigungen bestimmen von nun an das Leben des Ehepaars. Nachdrücklich verabschiedet aus dem einstigen Heimatland wird Scheyer im Zug an der Schweizer Grenze: Nachdem er sein gesamtes Vermögen aufwenden musste, um die Ausreisevisa für sich und seine Frau zu erlangen, wird ihm, der gerade noch 10 Mark in der Tasche hat, von einem Jüngling in SAUniform der Pass vor die Füße geworfen mit den Worten: „Diese Saujuden, alles kann man ihnen wegnehmen und noch immer finden sie jemand, der sie aushält.“ Durch das Erlebte sehend geworden, trifft er schließlich in einem von Blindheit geschlagenen