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Frankreich ein. Seine Warnungen vor Hitler stoßen auf kein Interesse, sie werden als „Judengeschichten“ belächelt. Die Parole „Heute gehört uns Deutschland, morgen die ganze Welt“ gibt den Franzosen nicht zu denken, nicht einmal den Franzosen jüdischer Herkunft, die sich ebenfalls von Scheyers nervösen Belehrungen belästigt fühlen. Und selbst der Kriegseintritt Frankreichs ändert daran zunächst wenig. Die Wendung vom „dröle de guerre“, vom „spaßigen Krieg“, macht die Runde. Es ist ein Krieg, den die Pariser zunächst kaum wahrnehmen, geschweige denn ernst nehmen. Scheyer zeigt eindringlich, wie es zum Umschlag in einen „Blitzkrieg“ kommen konnte: Zum einen durch ein völliges Verkennen und Ignorieren der militärischen Bedrohung, zum anderen durch eine schleichende innere Zersetzung des politischen Apparats durch deutschlandfreundliche und faschistische Kräfte sowie durch das Gewährenlassen von deutschen Diplomaten, die unbehelligt Spionagearbeit treiben durften. Die Borniertheit der höheren Pariser Kreise bringt Scheyers Frankophilie ins Wanken. Doch bald zieht sich eine Schneise realer Gewalt durch das wolkige Geplauder der Pariser Gesellschaft: Erste Flüchtlingszüge erreichen als Vorboten des Unheils die Stadt. Die nun einsetzenden Fluchtbewegungen machen Paris rasch zur Geisterstadt, über die sich eine merkwürdige Ruhe legt: „Dieses sonst so quecksilberne, von Lebendigkeit übersprudelnde, mit geschäftiger Nervosität geladene Paris streckte sich faul, hingegeben dem süßen Zauber des Nichtstuns. [...] Diese verwunschene Ruhe, sie war nur Angst, die den Atem anhielt.“ (S. 56) Diese Angst wird gezielt verstärkt von den Deutschen, die durch künstliche Vernebelung erreichen, dass die Sonne „matt und düster wie das Licht einer Grablaterne, die von einem schwarzen Kreppschleier umhiillt ist“ (S. 58) erscheint. Die Scheyers reihen sich nun in die nur trage sich bewegende Fliichtlingskolonne ein. Am vierten Tag werden sie in der Nahe von Blois von deutschen Fliegern eingeholt, die die Zivilisten mit Maschinengewehren und Bomben traktieren. Zurück bleiben tote Männer, Frauen und Kinder. „Die kühnen Recken Görings hatten in aller Ruhe und Beschaulichkeit wehrlose Fliichtlinge massakriert. Und um ihr Vergniigen noch zu wiirzen, hatten die Lustmérder an ihren Apparaten spezielle Sirenen angebracht, die gleich einem Hohnlachen jene höllische Pfeifmusik produzierten.“ (S. 61). Immerhin können sich die Scheyers zunächst noch als Teil einer anonymen Fluchtbewegung wähnen. Doch die nach dem Waffenstillstand rasch einsetzenden antijüdischen Maßnahmen separieren sie von der Masse und setzen sie endgültig den Schikanen der neuen Machthaber aus, die von den französischen Behörden zunächst gleichgültig, dann mit unverhohlener Sympathie mitgetragen werden. Die antisemitische Propaganda entfaltet ihre Wirkung auch in den Köpfen mancher Franzosen, und die Scheyers können sich an keinem Ort mehr sicher fühlen: „Das Hakenkreuz hatte uns eingeholt. Das verfluchte Symbol, diese Uniformen, diese Visagen wieder erblicken zu müssen war für uns wie ein jäher Rückfall in schwere Krankheit.“ (S. 69) Man kehrt zurück nach Paris, das bereits vom Terror der auf roten Plakaten verkündeten Geiselerschießungen gezeichnet ist. Die Drohung von Internierung und Deportation Wer in die Welt der Literatur hineinschnuppert und sich von Rezensionen leiten lässt, wird bald aufden Namen Timo Brandt stoßen. Brandt ist ein Vielleser mit erstaunlicher Lesekapazität, der seine Meinung über Lektüren pointiert in zahlreichen Medien veröffentlicht. Seine Rezensionen wurden u.a. in ZW publiziert, können auf renommierten Internetplattformen wie Fixpoetry und Signaturen gelesen werden und in Literaturzeitschriften, etwa in Kolik sowie Literatur und Kritik. Und weil sein rasanter Ausstoß an Besprechungen die Aufnahmekapazität dieser Medien bei weitem übersteigt, hat Brandt einen eigenen Blog /yrikpoemversgedicht.wordpress.com ins Leben gerufen, den er mit atemberaubender Frequenz bespielt und damit seine Rezensententätigkeit dokumentiert. Ein Schwerpunkt von Brandts Interesse liegt im Bereich der Lyrik. Er holt meist zeitgenössische Gedichte ins Rampenlicht, mit denen er sich auf sensible und wahrhaftige Weise auseinandersetzt, dabei seine Begeisterung wie seine Einwände vorsichtig formuliert, ohne jemals in einen missionarischen oder oberlehrerhaften Gestus zu verfallen. Dieses besondere Interesse an Poesie ist nicht weiter verwunderlich, denn der 1992 in Düsseldorf geborene und in Hamburg aufgewachsene Brandt ist selbst Lyriker. Er bewegt sich kundig in seinem umfangreichen, dreidimensionalen Lesekosmos, durch den er die Bezugsfäden des eigenen Schreibens zieht, immer wieder von Neuem vor dem weißen Blatt, dem leeren Bildschirm seines Computers sitzend am eigenen Denken und Schreiben webend. Brandts Dichten entsteht an der Grenze von Berührung, Überschneidung und Verflechtung, es steht im beständigen, produktiven Gespräch mit Gedichten, die ihm nahe kommen. Es ist kein Nachdichten, kein gieriges Einverleiben und kein bloßes Weiterschreiben von Texten mehr oder weniger bekannter Dichterinnen und Dichter, sondern es geht Brandt auch im eigenen Dichten um Auseinandersetzung, es findet ein Be- und Hinterfragen, ein Anprobieren und wieder Verwerfen von Poetiken und Schreibhaltungen statt, ein neugieriges Stöbern, suchendes Hinterfragen, ein Prozess der Verarbeitung, des Fügens, Schnipselns, Faconierens und schließlich Gelingens eines Werks, das ein atmosphärisch dichtes Zeugnis von mannigfaltigen ist ein beständiger Wegbegleiter, und immer wieder kann nur ein Wunder im letzten Moment bei den nun folgenden häufigen Ortswechseln das Schlimmste abwenden. Einmal ist es ein gnädiger Arzt, der dem bereits in einem Internierungslager festgehaltenen und zur Deportation vorgesehenen Scheyer Iransportunfähigkeit aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigung bescheinigt, dann ist es ein Gendarm, der eine Ausweiskontrolle an einer Busstation just in dem Moment abbricht, in dem die Scheyers an die Reihe gekommen wären. Ein Versuch, die Schweizer Grenze mit Hilfe eines bestochenen französischen Grenzbeamten zu passieren, scheitert, da sich dieser Beamte nur am Geld, nicht aber an der Rettung der Geldgeber interessiert zeigt und das Ehepaar seinem Schicksal überlässt. Eine Zufallsbekanntschaft, die sich als Mitglied der Resistance entpuppt, rettet das Trio schließlich aus dieser Wüste menschlicher Niedertracht. Er vermittelt sie an das kleine Frauenkloster Labarde in den Pyrenäen, das sich der Pflege geistig behinderter Menschen verschrieben hatte. Die Äbtissin richtet ein Versteck ein, das unentdeckt bleiben wird. Nach Kriegsende wohnt das Ehepaar in Belves, dem Ort am Fuße des Klosters. Moriz Scheyer wird bis zu seinem Tod im Jahr 1949 Österreich nicht mehr betreten. Robert Schöller Moriz Scheyer: Selbst das Heimweh war heimatlos. Bericht eines jüdischen Emigranten, 1938-1945. Berlin: Rowohlt 2017. 384 5. € 22,95 Einflüssen gibt, Zitate einwebt, paraphrasiert und im Ringen um den subjektiv richtigen Ton Eigenständigkeit gewinnt. Oder wie Brandt es im Gedicht „An Mascha Kaleko“ ausdrückt: Als ob man sich, vielseitig, kennen würde und doch ist man sich gänzlich unbekannt Doch nimmt die Dichtung, deine, diese Hiirde, und drückt durch das Papier kurz meine Hand. Bereits 2017 legte Brandt sein Debüt „Enterhilfe fürs Universum“ (edition offenes feld) vor. Zwei Jahre später erblickte nun sein zweiter Lyrikband „Ab hier nur Schriften“ das Licht der literarischen Öffentlichkeit. Der Titel wirft Fragen auf. Ist er Feststellung, Appell, Wunsch, Warnung oder Iröstung? Was genau bedeutet „ab hier“? Was will Brandt mit „nur“ andeuten, welche Betonung hat für ihn dieses kleine Wort? Und was genau versteht er unter Schriften? Auf der Vorderseite des Einbands sieht man die schwarzen Buchstaben von Titel und Autor, die in einem Gewebe bunter Buchstaben gleicher Größe beinahe verschwinden. Man kann dieses Cover als gleichnishaft für die Haltung Juli 2019 83