OCR
Brandts sehen, der die eigene Dichtung so ernsthaft wie spielerisch in den Kosmos des bereits Vorhandenen einpasst und ihr eine polyphone (Grund)Stimmung verleiht. Vergleicht man Brandts Bücher, fällt auf, dass die sprachliche und formale Opulenz des Debüts verschlankt wurde. Der Lyriker verwendet nun eine deutlich einfachere Sprache, die gleichwohl fast immer der Poesie verpflichtet bleibt. Brandt legt vereinzelt klassische Formen wie Terzine und Elegie vor und verzichtet weitgehend auf frühere lyrische Experimente wie Einrückungen oder sein Spiel mit Leerzeichen. Die Gedichte sind meist strophisch gegliedert, immer wieder setzt der Dichter End- und Binnenreime und erfreut durch sparsam dosierte Wortneuschöpfungen. Weniger überzeugen alltagssprachliche Füllwörter wie „eben“ oder „eh“, unpoetische Beifügungen wie „schon klar“, manch abgegriffene Formulierung und einige Kalauer. Auch im aktuellen Buch ist eine unermessliche Fülle von Bezügen zur Literatur zu finden, etwa in Form anverwandelter Verse, und Brandt erweist zahlreichen Dichterinnen und Dichtern durch Zitat oder namentliche Erwähnung seine Reverenz. Daneben streut er Hinweise auf Computerspiele, Fernsehserien und Science-FictionRomane. Der Bogen reicht von der spätantiken Philosophin Hypatia bis Ephraim Kishon, von Petrarca und Schiller bis Rio Reiser, von Mayröcker bis Age of Empires III, um nur ein paar der Bezüge zu nennen. Herausragende Bedeutung bei der Entstehung dieses Buchs kommt obendrein dem amerikanischen Schriftsteller Richard Brautigan (1935 — 1984) zu, noch wichtiger war die Dichterin Mascha Kaleko (1907 — 1975). Inhaltlich kann man „Ab hier nur Schriften“ als Umkreisen einer Zäsur begreifen. Hier sinniert ein Mittzwanziger darüber, dass seine Kindheit endgültig vorbei ist, und versucht die narzisstische Kränkung zu begreifen, dass er nun unaufhaltsam altern wird. Er schaut zurück, erinnert Episoden der Kindheit und Jugend zwischen „lachen und weinen“, ruft Träume auf, die ins Surreale gleiten, und unbeschwerte Wünsche. Und er wirft „doch wo gehörst du hin“ den Blick nach vorn in eine noch ungewisse Zukunft und auf die eigene Endlichkeit, mal fassungslos, mal lapidar: „Einmal werden wir Leichen sein“. Im Zentrum dieses Schauens stehen „verhaltene Fragen“ und die ewige Sinnsuche. Der Blick des Dichters ist feinfühlig, meist melancholisch gefärbt, rutscht zuweilen ins Pathetische und bleibt dabei immer wahrhaftig und nahe bei sich. Als Zeugen werden Menschen aus dem Bekanntenkreis aufgerufen, denen er einige Gedichte widmete. Es ist müßig, über die Frage nach dem lyrischen Ich und einen autobiografischen Hintergrund zu spekulieren, denn hier spricht das Ich von Brandt, das manchmal auch ein „du“ wird, setzt sich und seine Gedichte aus. Wenn er schreibt „ich aber tauge still“, dann mag er vielleicht die Stille lieben, aber still bleibt er nicht, denn er schreibt Gedichte, die keineswegs still für ihn sprechen. Es gelingen ihm wundervolle Formulierungen, etwa jene, die an die Freiheit der Gestaltungskraft rührt: „Es gibt eine Absicht, doch auch die/ hat sich ergeben.“ In diesem Sinn kann man Tröstung (oder Fügung?) aus „Ab hier nur Schriften“ ableiten, die sich aus Brandts Auseinandersetzung mit der o.g. Zäsur ergibt. Einmal heißt es über einen Toten: „trocken/ ist die Tinte seines Lebens und kein Federkiel kratzt mehr“. Der Dichter ruft den Lauf des Lebens auf, der immer schon in den Tod mündete. Doch bis dieser Tod eines Tages „in der Tür“ stehen wird, bleibt wenigstens noch der Trost des eigenen Schreibens, der in Brandts Selbstermächtigung mündet, ihm Auftrag und Befehl wird: „Ab hier nur Schriften“. Monika Vasik Timo Brandt: Ab hier nur Schriften. Gedichte. (Mit einem Nachwort von Matthias Engels.) Berlin, München: Aphaia Verlag 2019. 61 S. (Mitlesebuch 146). Eine „Stimme für Arbeit und Gerechtigkeit“ nannte ihn der ehemalige IG-Metall-Vorsitzende Klaus Zwickel 1998, einen Verfasser „unerbittlicher Poesie“ der Germanist Gerhard Bauer 2004. Die Stadt Speyer würdigt seit 2006 mit einem nach ihm benannten Literaturpreis die Leistungen junger Autorinnen und Autoren, die, wie es auf der Website der Stadt heißt, „den Idealen des Humanismus und der Aufklärung verpflichtet sind beziehungsweise sich literarisch mit den Prozessen und Phänomenen von Wissenschaft und Technik auseinandersetzen.“ Angesichts solcher Wertschätzungen sollte man erwarten, dass ein Schriftsteller wie Arno Reinfrank (1934-2001), dessen Werk wie kaum ein anderes der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur an der Schnittstelle von Gegenwart und Erinnerung entlanggeschrieben ist, im Bewusstsein von Literaturwissenschaft und Literaturkritik präsenter wäre, doch das Gegenteil ist der Fall. Auch achtzehn Jahre nach seinem Tod ist die Zahl wissenschaftlicher Monographien zu seinem Werk, das sich mit Lyrik, Prosa, Drama, Hörspiel, Film und Zeitungsartikeln in einer stupenden Breite literarischer Gattungen und Textsorten auffächert, überschaubar geblieben. Nach wie vor bleibt vieles zu entdecken in der Schreibkunst des gebürtigen Pfälzers. Dazu beitragen soll nun eine Anthologie ausgewählter Gedichte, die Jeannette Koch und Konstantin Kaiser — die eine die Witwe, der andere ein Freund des Dichters — als Band 12 der ebenso 84 ZWISCHENWELT verdienstvollen wie lesenswerten Reihe „Nadelstiche“ der Theodor Kramer-Gesellschaft herausgegeben haben. Nadelstiche setzen gewöhnlich Reiz- oder Schmerzpunkte, sie fügen aber auch Getrenntes zusammen. Beides leisten Reinfranks Gedichte auf geradezu exemplarische Weise, indem sie Geschichte gewissermaßen mit ihrer Vor-Geschichte vernähen, einen Faden vom technischen Fortschritt hin zu den Verlusten spinnen, die er fordert, und beides in ihrer wechselseitigen Bedingtheit reflektieren, indem sie erinnerte Vergangenheit schließlich mit erlebter Gegenwart verbinden. 1955 war Reinfrank aus Protest gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland nach England gegangen, in ein vom ihm selbst gewähltes, erkämpftes und gegen alle Anfechtungen behauptetes Exil, das er bis zu seinem Tod nicht mehr verließ und in dem mit Blick auf kollektive gesellschaftliche Entwicklungen zugleich Leid und Schmerz seiner Individualgeschichte aufarbeitete. Individualgeschichte, das heißt: als jüdisches Kind ausgeschlossen zu sein vom Besuch einer Regelschule, mit der Mutter zu warten auf die Rückkehr seines Stiefvaters, der in einem Außenlager des Konzentrationslagers Dachau interniert war und Zwangsarbeit verrichtete, sich als Hausmeister im East End Londons zu verdingen, bis endlich die Zulassung zum Studium am Londoner Polytechnikum es ihm 1956 ermöglichte, unbefristet auf der Insel zu bleiben und seinem Leben einen bis dahin nicht gekannten räumlichen wie geistig-intellektuellen Fixpunkt zu geben. Von 1980 bis 1989 stand Reinfrank als Generalsekretar dem PE.N.-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland vor, das bis 2005 seinen offiziellen Sitz in London hatte. Seit 1959 hat Reinfrank laufend publiziert, zumeist in kleineren Hausern wie dem Steinklopfer Verlag in Fürstenfeldbruck oder dem de exilio Verlag Peter Guhl in Rohrbach. Sich den Gesetzen des Marktes zu unterwerfen und um einer größeren medialen Aufmerksamkeit willen in einem der führenden Literaturverlage zu veröffentlichen, wäre ihm niemals in den Sinn gekommen. Seine „Poesie der Fakten“ umfasst 10 Bände, in denen Reinfrank sowohl die historische als auch die wissenschaftliche Entwicklung des zwanzigsten Jahrhunderts dichterisch begleitet, fasziniert und aufgeklärtkritisch zugleich. 112 Gedichte haben Jeanette Koch und Konstantin Kaiser ausgewählt, die sie in der Folge ihrer Veröffentlichung und nach Jahrzehnten geordnet vorstellen, um Entwicklungslinien in Reinfranks CEuvre transparent werden zu lassen, dessen Entstehung freilich weitaus öfter Inspiration und Laune gehorchte als Planung und Kalkül. Auf einen Stellenkommentar haben die beiden verzichtet. Statt dessen finden sich am Fuß eines jeden Gedichts Drucknachweise, identifiziert ein Nachwort von Monika Rink, bei dem es sich um ihre Rede anlässlich der Verleihung des Arno-ReinfrankLiteraturpreises 2009 handelt, im Rückgriff auf poetologische Selbstaussagen des Dichters die