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typisch Reinfrankschen Schreibweisen als neue Form des Gelegenheitsgedichts und unternimmt eine vorläufige Verortung seiner Gedichte im Horizont der Geschichte der deutschsprachigen Lyrik. In bemerkenswerter Weise veranschaulicht die von Koch und Kaiser favorisierte chronologische Anordnung sowohl die Zeitbedingtheit als auch die Zeitlosigkeit von Reinfranks Gedichten, die ungeachtet ihrer Niederschrift „bei Gelegenheit“ sprachlich elaboriert und scharfsinnig sind. Wüsste man nicht, dass ein Gedicht wie „Umbenennung“ aus seiner Feder stammt, man könnte glauben, es sei in unseren Tagen entstanden. Tatsächlich aber ist es bereits 26 Jahre alt: Umbenennung Zwei Namen hat der selbe Fisch im Kanton Basel. Von Juni bis Dezember heifst er Lachs, dann für den Rest des Jahres Salm. Genauso ist es mit der Ehrlichkeit. Als Steuerpflicht kennt sie der Steuerzahler. Ab dem Minister heifst sie Staatsgeheimnis. Es ist ein Signum guter Literatur, dass sie niemals veraltet, könnte man sagen. Das wäre ein Lob. Gut gewählt der Titel „Friede Freiheit Frauenrechte!“. Georg Tidl teilt das neun Jahrzehnte umfassende Leben, politische als auch literarische Werk (sie musste unter einem Pseudonym veröffentlichen) seiner Mutter Marie Tidl chronologisch in Kapitel auf. Österreichische Zeitgeschichte anhand der Zeitzeugin und Widerstandskämpferin Marie Tidl. Der Sadismus von Krieg und Gewalt und die Unmöglichkeit, deren sich wiederholende Mechanismen zu begreifen, wird in der Erzählung „Unterm Kirschbaum“ deutlich: Tod durch Erhängen am Kirschbaum. Der Baum wird später gefällt, um Spuren zu verwischen, doch der fehlende Schatten steht allegorisch für den moralisch verwerflichen Akt des „vom Tisch wischen-Wollens“. Felicia Schätzer Orte der Welt In präzisem, ruhigem Ton, dann manchmal mit plötzlicher Poesie, die die Unmöglichkeit des Begreifens und den Schmerz aufzeigt, beschreibt Marie Tidl die Zeiten von Hass, Vertreibung und Krieg als auch die Vor- und Nachkriegsjahre, so dass einem der Atem stehen bleibt. Wie oft habe ich innerlich aufgeschrien und geweint bei ihren Erzählungen und Gedichten, eine vermeintliche Schockstarre, die Marie Tidl sowohl in ihren Schilderungen als auch ihrer politischen Arbeit durchbrochen hat. Und auch der heute wiederholt auftretenden Grausamkeit der Politik kann man in ihrem Sinn entgegnen: Was einem immer bleibt und gefordert ist, ist Zivilcourage! Tidl war zeitlebens mit Ernst Jandl befreundet und schrieb auf Augenhöhe. Daher stellt sich Mit gleichem Recht könnte man feststellen: Seit 1993 hat sich die Welt nicht verändert. Das wäre Trauer. Engagierte Schriftsteller sind Menschen, die ihren Finger in die offene Wunde unserer Gesellschaft legen, Missstände benennen und nach ihren Ursachen fragen, damals wie heute. Das ist die Hoffnung, die bleibt, zumal wenn man Reinfranks Gedichte liest. Ralf Georg Czapla Arno Reinfrank: Die Zwitschermaschine. Mehr als hundert ausgewählte Gedichte. Hg. von Jeannette Koch und Konstantin Kaiser. Mit einem Nachwort von Monika Rinck. Wien: Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft 2018. (Nadelstiche, 12). € 18,die Frage, warum ihr Name der breiten OF fentlichkeit nicht bekannt ist. Dank an Verlag und Autor, die sich fiir breitere Rezeption von Frauen in der Literatur einsetzen! Aurelia Burckhard Georg Tidl: Frieden Freiheit Frauenrechte! Leben und Werk der österreichischen Schrifistellerin Marie Tidl 1916 — 1995. (Mit Prosatexten und Gedichten von Marie Tidl.) Wien: Theodor Kramer Gesellschaft 2018. 274 S. € 24,- (Antifaschistische Literatur und Exilliteratur — Studien und Texte. Band 28). Ich habe eine Kindheitserinnerung an einen Ferienaufenthalt im Mühlviertel. Die Erwachsenen mussten den gebrechlichen Verwandten helfen, das Heu zusammenzurechen. Die Kinder konnten den ganzen Tag im öffentlichen Schwimmbad verbringen, das nicht größer als ein gewöhnliches Gartenpool war. Am Abend, als es abkühlte, und wir Sprösslinge irgendwie damit einverstanden waren, vom Schwimmbad zu einem Spaziergang weggezerrt zu werden, marschierte die Familie aus der winzigen Ortschaft hinaus und in einen dunklen Wald hinein. Nach einer Weile hörte der Wald aber wieder auf, und wir kamen zu einem breiten, gerodeten Streifen. Als wir im Begriff waren, aus dem Wald auf diese Lichtung herauszutreten, sagte mein Vater plötzlich „Stopp, kein Schritt weiter!“ und hielt uns so zurück, als würde uns in der Sonne gleich ein Tiger anspringen. Ich, schon alt genug, um seinen Späßen auf die Schliche zu kommen, rannte den Weg jetzt erst recht nach vorne, worauf natürlich nichts passierte, und warf den anderen Familienmitgliedern einen vernichtenden Blick zu. Mein Vater sagte daraufhin, dass man, als er selbst noch ein Kind war, genau dort, wo ich jetzt stand, von Soldaten erschossen worden wäre. Wir befanden uns am ehemaligen Eisernen Vorhang an der tschechisch-österreichischen Grenze. Die Vorstellung, dass man hier früher erschossen worden wäre, hatte damals in erster Linie den Effekt, dass meine kleine Schwester, die noch hinter „der Grenze“ im Wald stand, sich demonstrativ weigerte, einen Schritt weiter zu gehen, und in einen halbgekünstelten Heulkrampf ausbrach. Die ganze Familie musste ihr daraufhin beweisen, dass jetzt niemand mehr erschossen wurde, egal, wie man in der Sonne herumtänzelte. Aber die Geschichte hatte auch den Effekt, mich damals verwundert oder sogar erschreckt zu haben. So dass ich mich bis heute daran erinnern kann. Ich kehre durch Erinnerungen an Orte der Kindheit zurück. Und die Orte der Kindheit sind immer auch Orte der Vergangenheit, der Geschichten und der Geschichte. Kassabovas Buch Die letzte Grenze ist mit ebendiesem Leitgedanken angelegt worden. Zurück reisen, sich zurück erinnern, zurück forschen und daraufhin den Bogen zur Gegenwart zu spannen. Sich zu fragen, inwieweit alles Vergangene Relevanz für das Jetzige hat. Juli 2019 85