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BRIEFE Lieber Konstantin, Du hast seit langem nichts mehr von mir gehört. Der preußische Rudolf Levy hat mich abgehalten. Nun lese ich gerade, daß die nächste Jahrestagung der Gesellschaft für Exilforschung in Frankfurt/Oder in Zusammenarbeit mit der österreichischen Gesellschaft vorbereitet wird. Vielleicht könnten wir uns dann wiedersehen und uns ausführlich unterhalten. Das Ihema „Widerstand“ der Tagung interessiert mich an und für sich sehr, und ich hätte auch etwas dazu zu sagen. Bevor aber das Rudolf-Levy-Manuskript nicht fertig ist, muß ich jeglicher Ablenkung durch Vorträge und Publikationen anderer Art widerstehen. Nicht ganz, fällt mir gerade ein. Seit langem ist eine Ubersetzung von „Sonjas Tagebuch“ ins Slowenische im Gespräch, das im Dezember 1941 in Slowenien im Jagdschloß Lesno brdo entstanden ist. Ich warte auf eine Mitteilung des Übersetzers, daß er mit der Arbeit beginnen will. Er hat bereits vor zwei Jahren ,,Joskos Kinder“ übersetzt. Das Buch ist in einer schönen Ausgabe der Slowenischen Akademie der Wissenschaften erschienen und wurde am Gedenktag des 27. Januar letzten Jahres in Ljubljana vorgestellt. Ich habe mich selbstverständlich auf den Weg dorthin gemacht und habe am Ort sehr viel für mich Neues über die Shoah in Slowenien erfahren. Mit der Abfassung des Buchs zum Exil Rudolf Levys möchte ich in den nächsten Tagen beginnen. Es liegt viel Arbeit hinter mir bei der Sammlung der verstreuten Dokumente und der Wiederentdeckung bisher verschollener Bilder in Mallorca. Manche Lücke werde ich wohl kaum mehr füllen können. Vor allem war meine Suche nach Levys Briefen an seine in Deutschland gebliebene Frau Genia erfolglos. Ich muß mich damit abfinden, seinen Weg im Exil durch die zu einem guten Teil erhaltenen, an ihn gerichteten Briefe zu rekonstruieren. So grüße ich Dich herzlich, wenigstens als treuer Leser der „Zwischenwelt“ Dein Klaus Voigt, Berlin-Charlottenburg, 16. Februar 2019 Zu Soonim Shins „Die meisten Arbeiter blieben gegenüber dem Nazi-System resistent“, in ZW Nr. 4/2018 (Februar 2019), S. 11-12. Auch wenn laut Soonim Shin, wie das schon vor ihr viele dogmatische Linke behauptet haben, die meisten Arbeiter gegenüber dem NaziSystem resistent blieben und sie sich bemühte, dies mit vielen Zitaten zu belegen, stimmt das natürlich nicht. Denn nirgendwo waren die Arbeiterorganisationen so stark wie in Deutschland, und doch gelang es den Nationalsozialisten diese binnen sechs Monaten nach Machtübergabe an Hitler zu zerschlagen. Die Behauptung, die Arbeiterklasse sei einheitlich im Nationalsozialismus unterdrückt worden und habe Widerstand geleistet, wird auch durch Wiederholung nicht wahr. Ab dem Historikerstreit (1986) änderte sich das Bild der Historiker vom Gegensatz zwischen Arbeiterklasse und NS-Regime zu einer differenzierten Wahrnehmung von „arischen“ gesunden Deutschen im Gegensatz zu „Gemeinschaftsfremden“. Der früh verstorbene linke deutsche Historiker Detlev J.K. Peukert wies daraufhin, dass es fast keine „internationale Solidarität“ der deutschen Arbeiter mit den Zwangsarbeitern gab, ja dass auch nicht nazistische Deutsche Angst davor hatten, dass die befreiten Ausländer Rache üben würden für die erlittenen Ungerechtigkeiten. Peukert hat auch mit einem Auszug aus den monatlichen Berichten des Reichssicherheitshauptamtes dokumentiert, dass sowohl im Dezember 1941 als auch im Juni und August 1943 die allermeisten Verhafteten Zwangsarbeiter waren. Peukert hatte die Herausbildung einer rassistischen Gemeinschaft in Deutschland als eine extreme Form der Moderne begriffen, die ihre Ursprünge im späten 19. Jahrhundert gehabt habe, in der durch wissenschaftliche, rationale Methoden Armut oder Straffälligkeit eingedämmt werden sollten. Unbestritten gab es brutale Repression, Zwang und Arbeitserziehungslager für die Wenigen, die sich nicht beugen wollten. Andererseits jedoch lockte das NS-Regime das gewerkschaftliche Milieu mit symbolischer Anerkennung durch Hochachtung der Handarbeit, staatliche 1. MaiFeiern, mit der Anrede „Volksgenosse“ und der Tendenz zur Gleichstellung von Arbeitern mit Angestellten (z.B. bei Urlaub und Versicherung), nicht zu vergessen, den Haushaltstag für berufstätige Frauen sowie die Aktion Kraft durch Freude. Auch die nationalistische Dolchstoßlegende hat sehr viele Arbeiter beeinflusst, die sich freuten, als Arier zur Herrenrasse zu gehören. Als ich sechs Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg nach Österreich zurückkehrte, fand ich nach ein paar Wochen Arbeitslosigkeit eine Arbeit als Hilfsarbeiter. Ich erlebte am Arbeitsplatz, wie sich einige Kollegen mit Sehnsucht an die Volksgemeinschaft erinnerten und an die durch Eintopfessen verwirklichte klassenlose Gesellschaft. Gebildete Kommunisten relativierten damals die Vernichtung von sechs Millionen Juden. Sie hielten das Leid der anderen Völker dagegen. Manche tun das noch heute. Es war zu beobachten, wie aus Ariern nach 1945 wieder Proletarier wurden und wie viele von ihnen in Wirtshäusern, schon nach ein paar Gläser Wein erzählten, dass doch Hitler ein Halbjude war und jüdische Kapitalisten die Nationalsozialisten unterstützten. Und natürlich hatte man nichts gegen die armen Juden, nur gegen die reichen. Kommunisten erklärten, dass der „Faschismus“ zwar wenige Arbeiter an seine Seite gezogen hatte, doch die meisten gegenüber dem Nazi-System resistent gewesen wären. Sie wurden bitter böse, wenn man sie an die Zeit zwischen 1939 und 1941 erinnerte, als die zwei „proletarischen“ Staaten, das nationalsozialistische Deutschland und die kommunistische Sowjetunion, ab dem Hitler-Stalin Pakt befreundet waren. Sicher gab es eine tapfere Minderheit unter den Arbeitern, die weiter an ihren Ideen festhielten und die auch versuchten - vergeblich — mit Flugblättern die Menschen aufzuklären. Doch noch in manchen dieser illegalen Schriften finden sich bedenkliche Passagen. Zum Beispiel in der „Roten Fahne“ vom 1. Mai 1939, in dem von „Bürckels Dreiteilung des Kampfes gegen das österreichische Volk“, die Rede ist. „Und der Begriff ‚Jud‘, mit der neuen Ergänzung von den ‚weissen Juden‘, richtet sich in der Praxis gegen die große Masse der Gewerbetreibenden, selbstständigen Handwerker und kleinen Händler.“ Dem folgt dann u.a. die Behauptung: „Zehntausende Österreicher, die früher mehr oder weniger einem traditionellen Antisemitismus huldigten, sind heute erfüllt von tiefen Gefühlen der Solidarität mit den barbarisch verfolgten Juden.“ Erst die unvergessene Erika Weinzierl wies daraufhin, dass es in Österreich „zu wenig Gerechte“ gab. Ich denke, man sollte seine Wünsche nie mit der Realität verwechseln und nicht versuchen zu leugnen, dass der volksgemeinschaftliche Massenmord ohne den Beitrag der Arbeiter zur Stabilisierung der NS-Herrschaft niemals hätte durchgeführt werden können. Karl Pfeifer, Wien, 1. April 2019 Dazu erreicht uns eine ausführliche Stellungnahme der Autorin des kritisierten Beitrags, Soonim Shin: Nach Karl Pfeifer stimmt meine Aussage, dass die meisten Arbeiter gegenüber dem Nazi-System resistent blieben, „natürlich nicht“. Pfeifers Begründung lautet: „Denn nirgendwo waren die Arbeiterorganisationen so stark wie in Deutschland, und doch gelang es den Nationalsozialisten diese binnen sechs Monaten nach Machtübergabe an Hitler zu zerschlagen.“ Die Frage war aber nicht, ob die Arbeiterorganisationen nach 1933 intakt blieben (sie blieben es nicht), sondern ob die meisten Arbeiter auch nach Zerschlagung ihrer Organisationen resistent blieben. Aus der Tatsache, dass die Nazis die offiziellen Arbeiterorganisationen 1933 mit brachialer Gewalt gegen den Willen ihrer Mitglieder kaputtschlugen, kann nicht gefolgert werden, dass die meisten Arbeiter in dieser Zeit von Hitler begeistert waren — im Gegenteil. Karl Pfeifer schreibt weiter: „Die Behauptung, die Arbeiterklasse sei einheitlich im Nationalsozialismus unterdrückt worden und habe Juli 2019 89