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Editorial Tuvia Riibner (1924 — 2019) Mein lieber Freund Tuvia Riibner ist am 27. Juli im ehemaligen Kibbuz Merchavia verstorben. Er, der im Kibbuz als Schaf- und Ziegenhirt begonnen hatte, bewohnte dort ein eigenes Haus zusammen mit seiner Frau, der Pianistin Galila Jisreeli. Bei dem Haus stand ein hoher Nußbaum, dessen Früchte von einer neueingewanderten Papageienart mit scharfen Schnäbeln geplündert wurden. Tuvia hatte eine eigene Art, den Vögeln mit einer Mischung aus Belustigung und Bedauern (über den Verlust) nachzuschen. Auf einer höheren, dramatischeren Ebene stellte sich diese Fähigkeit, ambivalente Gefühle nicht abzuwehren, als Einheit von Mitfreude und Mitleid dar, eine Einheit, die man nicht einfach mit Mitgefühl gleichsetzen kann. Ich denke an Tuvias Gedicht „Er war“: Er war siebzehn, ein kurdischer Flüchtling, er hieß Bilal Bisda. Er hatte, weif®-Gott-wie, Calais erreicht. Er wurde gefangen, verurteilt, freigelassen, weil er aus einem Kriegsland kam. Er wollte aber weiter, nach London, dort wartete seine Geliebte. Verborgen auf einem Laster nach Dover. Man fing ihn. Zurück nach Calais. Kein anderer Weg als Schwimmen. Er nahm Schwimmstunden, lernte schwimmen. |...] Abelard, Abelard, Heloise fleht, rasch, rasch, ihr Vater will sie einem anderen geben, Abelard. Wiederum schwimmt Bilal. Irreal, total irreal in den wilden Wellen des Winters zu schwimmen. Wahnsinnig der Schmerz im ungebändigten La Manche Kanal. Man sichtet ihn, er taucht, sichtet ihn wieder, er taucht in die Tiefe, 800 Meter von der britischen Küste entfernt — unglaublich. In einem Plastiksack nach Calais gebracht |...] Der Schmerz durchbrach den LCD, breitet sich im Zimmer aus, Vergessenes unvergessen wird wach, der Greis sitzt — seine Augen füllen sich mit Salz — in sich versunken. Hier gehen Bewunderung - als ernste Vertreterin der Freude — und Schmerz Hand in Hand; zugleich gemahnt das Geschehene an die eigene bittere Erfahrung — von seiner Familie in Preßburg hat nur Tobias Rübner den NS-Massenmord überlebt. Die Tränen, die er weint, signalisieren Empathie, Öffnung, nicht Abschließung. Seit 1999 erschienen immer wieder Beiträge Rübners in Zwischenwelt, zuletzt im Vorjahr seine tiefschwarzen „Nachtgedanken“, Reflexionen zumeist über das Alter, so: Ein beliebiges Wort wie beispielweise „begreifen“ kann dir ein Rätsel sein. Und Wörter wie „Bergrücken“ oder „Lanzette“ dich wie vorsintflutliche Geschöpfe ansehen. Als er im Jahre 2008 zur Verleihung des Theodor Kramer Preises an ihn nach Österreich kam, wurden wir — Siglinde Bolbecher war mit dabei — Freunde, woran nicht nur der reichlich genossene 4 ZWISCHENWELT Veltliner Schuld trug. Seine Lesung in Salzburg leitete ich in alter guter oder schlechter Gewohnheit in freier Rede ein. Zum Glück wurde mitgeschnitten, sodaß sich daraus das Nachwort zu Tuvias Gedichtband „Spätes Lob der Schönheit“ destillieren ließ. Tuvia meinte, es gehöre zum Besten, was über ihn geschrieben worden sei. Wie in anderen Fällen auch, war der Kramer-Preis für Rübner, damals 84jährig, nicht das Ende, sondern der Anfang eines großen lyrischen Alterswerkes: „Spätes Lob der Schönheit“ (2010) entstand im wesentlichen noch 2008, es folgten 2011 „Lichtschatten“, 2014 „Wunderbarer Wahn“, 2016 „Im halben Licht“. Aber Tuvia Rübner war nicht nur Lyriker, er war vor allem auch Übersetzer aus dem Hebräischen ins Deutsche, Universitätsprofessor und wissenschaftlicher Herausgeber. Daher wird oft seine Rolle als Mittler zwischen deutscher und jüdischer Kultur hervorgehoben. Ich glaube, daß ihm solches Lob im Grunde peinlich war. Er, der bis 1956 als Lyriker an der deutschen Sprache — Sprache seiner ermordeten Angehörigen - festhielt, bewegte sich in seinen Studien und Übersetzungen stets von einer Sprache in die andere. Spät erst begann er seine Gedichte selbst ins Deutsche zu übersetzen, schrieb sie aber mit wenigen Ausnahmen, wo es ihm um einen drastischen Ausdruck zu tun war, immer auf Hebräisch. Von da kamen sie mit einem Schimmer der Fremde auf uns. 2012 schrieb ich Tuvia dazu: Jedes dieser Deiner Gedichte hat seine Würde, die es mit Umsicht gegen seine vielen Brüder und Schwestern verteidigt und dabei doch durchdringlich bleibt für Licht und Schatten, Geruch und Kopfschmerz. Konstantin Kaiser Gratulation Wir gratulieren Evelyn Adunka zum Preis der Stadt Wien für Publizistik 2019. Dieser Preis ist auch eine Ehre für die Zeitschrift ZW und für die Redaktion, der Evelyn seit vielen Jahren und unüberschbar aufgrund ihrer zahlreichen Beiträge angehört. Im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft wird 2020 ihr Buch „Meine jüdischen Autobiographien. Eine Leseverführung und subjektive Auswahl“ erscheinen, in dem sie an die 300 deutschund englischsprachige autobiographische Publikationen aus rund zwanzig Ländern beschreibt. Über diese Autobiographien erschließen sich auch Netzwerke des jüdischen Exils, kristallisieren sich geistige Zentren des Judentums im 20. Jahrhundert heraus. Parallel dazu hat Adunka auch eine Dokumentation zu diesen Werken aufgebaut. Das Buchprojekt ist jedenfalls ein wichtiger Beitrag zu den Bemühungen, die Autobiographien der Verfolgten zugänglich und bekannt zu machen, statt Zeitzeugenschaft mangels ZeitzeugInnen hinfüro mit Comicstrips und Computerspielen zu substituieren.