OCR
Harald Maria Höfinger Theodor Kramer gelang 1939 — am 20. Juli verließ er das Deutsche Reich, am 21. erreichte er England — die Flucht aus der Nazihölle. Exakt 30 Jahre später betraten Armstrong und Aldrin den Mond. Ihr Raumschiff Apollo 11 und die Mondlandefähre Eagle waren von einer Saturn V Rakete, konstruiert von Wernher von Braun, einem Nationalsozialisten und SS-Mitglied, und seinen Mitstreitern, zum Erdtrabanten getragen worden. Er sei Wissenschaftler, es wäre ihm immer nur um das Große-Ganze gegangen, den Aufbruch zu den Gestirnen, rechtfertigte er sich. (Da muss man Opfer in Kauf nehmen.) Im KZ Mittelbau-Dora im Harz und in der unterirdischen Rüstungsfabrik im nahen Kohnstein - in den Stollenanlagen wurde die V2 gefertigt — sind an die 20.000 Zwangsarbeiter gnadenlos zu Tode geschunden worden, deutlich mehr als die „Vergeltungswaffe“ selbst umbrachte. Die Sowjetunion erbeutete den geringeren Teil der Raketeningenieure und „Wunderwaffen“, trotzdem gelangen dem Konstrukteur Sergei Koroljow bahnbrechende Erfolge. Die braune Saat der V2 setzte reichlich Früchte an, in den USA und der UdSSR: Trägerraketen für Atombomben, Satelliten und Raumkapseln. Das Wettrennen zum Mond zwischen den Supermächten war medienwirksamer und prestigeträchtiger Teil des hemmungslosen Aufrüstens im Kalten Krieg. Theodor Kramer hat den Beginn der Raumfahrt noch miterlebt. Am 4. Oktober 1957 war Sputnik 1 von den Russen in eine Erdumlaufbahn geschossen worden. Sputnik 2 folgte am 3. November mit der Hündin Laika an Bord. Ihre Rückkehr auf die Erde war nicht vorgeschen. Am 28. November 1957, zwei Monate nach seiner Rückkehr von Guildford nach Wien und vier Monate vor seinem Tod, schreibt Kramer das Gedicht „Wiedersehen mit der Heimat“, in dem er in knappen Strichen skizziert, warum er sich nicht mehr zurechtfindet, sich erst in der Heimat „ewig fremd“ fühlt. Nach Jahren kam, verstört, ich wieder her; der alten Gassen manche sind nicht mehr, der Ringturm kantig sich zum Himmel stemmt: erst in der Heimat bin ich ewig fremd. Mir schließt sich im Gedächtnis nicht das Loch; Espressos glitzern, mich empfängt kein Tschoch, das Moped braust, nur hastig wird geschlemmt: erst in der Heimat bin ich ewig fremd. Sind auch die Lüfte anderswo bewohnt, mir ist, als zielte alles nach dem Mond, der saugte, zwischen Dächern eingeklemmt: erst in der Heimat bin ich ewig fremd. Die Verstörung entspringt seinem Befinden und der Wahrnehmung; zum einen ist er gesundheitlich schwer angeschlagen, aufgerieben von Vereinsamung und Existenzängsten, gezeichnet von Depressionen und körperlichen Gebrechen, zum anderen hat sich das Stadtbild durch Kriegsschäden und Wiederaufbau spürbar verändert. Ganze Straßenzüge waren zerstört oder verwaist, die Rollbalken, vor sich hin rostend, heruntergefahren, hier wurde nichts mehr verkauft, und hinter zerschossenen Fassaden schwiegen abertausende arisierte Wohnungen und Geschäfte. Man weiß, dass der Nationalsozialismus zwar militärisch besiegt ist, in den Köpfen aber noch lange nicht. Neue Gebäude füllen zurückhaltend die Lücken, verkünden als Boten des Aufbruchs, des Fortschritts die „Moderate Moderne“. Der Ringturm, das erste Hochhaus der Stadt, ragt kantig als ansehnlicher Quader 73 Meter in den Himmel, fordert mit den zusätzlichen 20 Metern der Wetterlichtsäule, fast schon an den Wolken kratzend, den Rathausmann und die Türme der Votivkirche auf Augenhöhe heraus. Nur der Stephansdom behauptet eindrucksvoll seine Höhe. Der neue Stahlbeton-Skelettbau mit schlanken Stützen steht prominent an der Kreuzung von Schottenring und Franz-Josefs-Kai, genau an der Stelle, wo sich vor dem Artilleriebeschuss in der Schlacht um Wien das Bürgerspitalfondshaus in die Prachtstraße eingereiht hatte. Der Ringturm, damals vielleicht auch ein Symbol der wiedererlangten Freiheit, wurde am 14. Juni 1955, am Ende der Besatzungszeit, vier Wochen nach der Unterzeichnung des Staatsvertrages, feierlich eröffnet. Norbert Liebermann, der Generaldirektor der Wiener Städtischen Versicherungsanstalt, hatte den Architekten Erich Boltenstern mit der Errichtung eines modernen, zweckmäßigen Bürohochhauses beauftragt. Beide hatten unter den Nationalsozialisten zu leiden gehabt. Liebermann emigrierte, nachdem er von der Gestapo verhaftet und in das KZ Dachau verschleppt worden war, in die USA, wo ihn die Hochhäuser der Metropolen faszinierten, Boltenstern, der an der Akademie der Bildenden Künste eine Meisterklasse unterrichtet hatte, wurde nach dem Anschluss vom Dienst suspendiert. Viel mehr aber muss Theodor Kramer der Verlust seiner Freunde und Bekannten, jener Menschen, denen er früher beinahe täglich begegnet war, geschmerzt haben; ob sie nun altersbedingt verstorben, von einer Granate zerrissen, wie seine Mutter im Konzentrationslager ermordet oder, der Heimat beraubt, über den ganzen Globus versprengt waren, sie waren nicht mehr da. Für Kramer ein Weltuntergang! Dieses Loch im Gedächtnis, gerissen von den Jahren des Naziterrors und jenen 18 seines Exils in England, lässt sich nicht schließen. Die Menschen, denen er jetzt begegnet, beschleunigen. Bill Haley and The Comets geben mit „Rock Around the Clock“ das Tempo vor. Grell flackernde Neonreklame schreit nach Kundschaft, das gemächliche Kaffeehaus hat ausgedient, Espressos sind angesagt. Im Gedicht „Von den ersten Fahrrädern im Marchfeld“ von 1929 hat Kramer wohlwollend vom Anheben des großen Fahrens und Gleitens über Land berichtet, jetzt brausen Mopeds, surrend und knatternd, geritten von Halbstarken in Lederwesten und Brillantine im widerspenstigen Haar durch die Straßen. Diese Kleinkrafträder, angetrieben von Zweitakt-Verbrennungsmotoren, beflügeln, die Muskelkraft schonend, den Individualverkehr, insbesondere die Mobilität der Jugend; sie sind erschwinglich und massentauglich. Düsenflieger haben längst die Hoheit in den Lüften von den Vögeln übernommen, der Mond, der sonstan den November 2019 5