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Gottes setze darauf, dass erst eine Annahme (die Nicht-Existenz Gottes) bestätigt werden müsse, bevor Freiheit erlangt werden könne. Diese zweite Position sei diejenige einer „Vergottung“ des Menschen (die etwa von Nietzsche und Marx verfolgt worden sei). Hellers Position dagegen ist existentialphilosophisch: Die moderne Erfahrung ist für sie eine Erfahrung der „absoluten Gegenwart“ (weder durch Tradition an die Vergangenheit, noch durch ein Telos an die Zukunft verwiesen) und der absoluten Freiheit des Nicht-Determiniert-Seins. Diese von Anfang an gegebene, aber unbestimmte Freiheit verbindet sie mit der (ethischen) Forderung der existentiellen Wahl. Eine Wahl, die durch praktische Gesichtspunkte gekennzeichnet ist und sich der Meinung über das „Ultimative“ enthält. Heller wettet also gewissermaßen gegen „die Wette“. Neben der Ablehnung von Geschichtsteleologie und Metaphysik, wird hier auch Hellers dritte, oben erwähnte Festlegung bedeutsam: Wichtig für das Individuum der Moderne ist nicht die Frage nach einem göttlichen Prinzip, sondern die Erkenntnis und das Ergreifen der eigenen Freiheit: „Becoming free is the selftransformation of one’s being free (as nothing) into being free as being-oneself.“ (PHF 18) In anderen Worten, es ist die Praxis des Lebens und nicht die Frage nach dem Sinn des Seins (und damit des Todes), die Hellers Interesse weckte. Obwohl sie Heideggers Frage nach dem In-der-Welt-sein als relevant ansah, lehnte sie dabei eine jede Transzendierung des wirklichen Menschen ab; vom Menschen könne man nicht abstrahieren, es sei falsch ihn — wie bei Kant — aufzuspalten in Erscheinung und Idee, er sei immer „ein Ganzes“. (GP 160) In dieser radikalen Festlegung auf den Einzelnen und eine gleichzeitig bedingungslos vorhandene, aber dennoch zu ergreifende Freiheit, machte Hellers Denken zwar erhebliche Veränderungen durch—von Marx zu Kierkegaard, von Hegel zu Wittgenstein und Kant-blieb aber in den Gegenständen seines Interesses konsequent. Verändert hatsich lediglich der Horizont, unter dem sie ihre Fragen stellte: Vom „begründeten“ Glauben an den Fortschritt, hin zum „grundlosen“ und offenen Horizont einer Gegenwart ohne universelles (wenn auch mit ein von ihr gefordertes individuelles) Telos. Betrachten wir diese Kontinuitäten anhand von zwei Beispielen: Schon in der Mensch der Renaissance (ihrer ersten Monographie) charakterisierte sie ein dynamisches Menschenbild (neben einer klassisch marxistischen Würdigung und Diskussion der Produktivkräfte jener Periode) als maßgeblich für die historische Epoche der Renaissance. Die sozialen Akteure seien (eingeschränkt) mobil gewesen und traten, nach Heller, in Akte der Selbstinterpretation/ Selbstauslegung ein. Das Verhältnis des einzelnen zur Gesellschaft sei potentiell durch „unendliche Möglichkeiten“ (MR, 15) und „individuell“ bestimmt gewesen. Viel später formuliert Heller in ähnlicher Weise, dass es unter postmodernen Bedingungen die existentielle Selbstwahl sei, in der sich die dynamis—die Potentialitat —des Einzelnen vollziehe. Diese dynamis sei „aktive Potentialität“ (HF 26), also eine Möglichkeit die ergriffen werden müsse. Hellers frühe Schriften beschränkten sich noch mehr darauf, Antionmien oder einfach nurallgemeine Schwierigkeiten in der Erlangung von Freiheit darzustellen. Praxis und Handlung sind zentral, werden aber, wenn schon nicht in den Dienst, so unter das Diktum universellen, geschichtlichen Fortschritts gestellt. Später diskutiert sie weiterhin das Freiheitsproblem, ist dabei aberan der „Sache selbst“, unabhängig von einer möglichen universell-geschichtlichen - also utopischen — Aufhebung, interessiert. Ähnlich verhält es sich mit ihrem Nachdenken über Emotionen, Bedürfnisse und Alltag. In Zheorie der Bedürfnisse — ihrem, Ägnes Heller. Foto: www.nafezrerhuf.com laut Heller, „wirklich neulinken Buch“ - sind es „radikale Bedürfnisse“, also erwa stets ansteigende Bedürfnisse nach Freizeit und Universalität, die durch den Kapitalismus notwendigerweise hervorgebracht würden und ihn schon in seinem Dasein (nicht erst in oder nach seiner Überwindung) transzendierten. Damals noch unter das utopische Versprechen der „totalen Revolution“ gestellt, sicht Heller die Befriedigung dieser Bedürfnisse zwischen den Polen Freiheit-Notwendigkeit und Teleologie-Kausalität firmierend; ihre erfolgreiche Stillung könne nur über die kollektive Einsicht in die entfremdeten „Produktions- und gesellschaftliche Verhältnisse“ (TB 107) erfolgen. Dieses ‚kollektive Einsicht‘ fasste Heller als die (historisch noch ausstehende) Bildung eines „enormes Bewusstseins“ (das mit Georg Lukäcs auch als das „zugerechnete Bewusstsein“ gekennzeichnet werden könnte), das über eine jede Einzelwahrnehmung hinaus ginge. Das widersprüchliche Erleben des Individuums soll in ihrer „neulinken“ Phase noch im sog. Gattungswesen und in kollektiver Praxis aufgehoben werden. Später gilt es für Heller diese Widersprüche schlicht auszuhalten, radikale Bedürfnisse bestünden, könnten aber nicht immer befriedigt werden. Als politisches Terrain erhalten sie dadurch aber auch eine neue Dringlichkeit: Man kann ihre Bedeutung nicht mit Verweisen auf die Zukunft lindern. Mit der Aufgabe des Bildes einer (zwingend) glücksversprechenden Zukunft, gewinnt die Gegenwart — Heller prägt den schon erwähnten Begriff der „absoluten Gegenwart“ — an Bedeutung: „Ihe future of the present is the present. It does not transcend the present“ (TM 11), heißt es diesbezüglich in A Theory of Modernity. Heller gibt den Begriff des „fortschrittlichen Bewusstseins“ nicht auf, verschiebt aber seine Bedeutung radikal und dies in zwei Richtungen: Auf individueller Ebene geht es um ein Bewusstsein radikaler Freiheit — um die „existentielle Wahl“ von der Heller schreibt. Auf einer geschichtsphilosophischen Ebene aber vergrößert sich die Perspektive. Eine jede Epoche besitze so etwas wie ein „historisches Bewusstsein“ ihrer selbst. Nur in der fortschreitenden Moderne aber könne man von einem „Bewusstsein des Bewusstseins“, also von einem historischen Meta-Narrativ sprechen (vgl. GP 119). Leben in der Moderne vergleicht Heller mit einem Leben „im Gefängnis der Gegenwart“. Sie greift auch auf das Bild einer November 2019 13