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Schiffsreise, dessen Ziel und Erfolg ungewiss sind, zurück. Die Seeleute dieses Schiffes wüssten aber zumindest das eine, nämlich „dass das nächste Kapitel der Moderne von ihnen geschrieben werden wird.“ (GP 176) Für diese Reise gilt noch eine zusätzliche Schwierigkeit: Es gilt nicht nur die Unsicherheit einer ungewissen Zukunft, sondern auch die Unmöglichkeit der Rückkehr auszuhalten. Mit den Shakespeare-Charakteren Othello und Shylock unterscheidet Hellerzwischen „bedingten“ und „absoluten Fremden“. Erstere seien in einer Art auflösbaren Exil-Position, letztere blieben (unter den Bedingungen eines kosmopolitischen Venedigs) absolut und unrettbar fremd. Zwar gibt es für den modernen Menschen keine Möglichkeit mehr der Rückkehr — weder ein reales Nach-Hause-Kommen im Konzept einer zyklischen Zeit, noch eine „Rückkehr“ in das Absolute, also zu Gott (oder auch des Absoluten in messianischen Vorstellungswelten) — dies heißt aber nicht, dass es keine spezifischen Standorte mehr in der Welt gäbe. Heller ist sich der Gefahr bewusst, die eine Behauptung einer immer-gültigen „universellen Allgemeinheit“ bedeutet. Die Welt ist nicht bloße eine Welt von „Beheimateten“, wie es bei Jean Amery heißt, sondern ergibt sich erst durch einen Heimatbegriff, der jedem Menschen individuell aneignet. „Welt“ entsteht erst durch die Unterscheidung von „dieser“ und „jener“ Weltund den Versuchen der gegenseitigen Verständigung. Mit Kant schreibt sie, dass „having home“ und „knowing home“ zwei fundamental verschiedene Dinge seien. Noch 2018 legte sie in einem Podiumsgespräch, das ich mit ihr im Republikanischen Club in Wien führen konnte, darauf Wert, zwischen einem „wirklichen Exil“, das auch sie selbst in Australien durchlebte, und einer mehr ontologischen Bestimmung von Fremdheit im Allgemeinen, zu unterscheiden. In der Position des „absoluten Fremden“, der sich weder eines Ziels gewahr ist, noch auf Rückkehr hoffen darf, verdeutlicht sich noch einmal die Relevanz, die Heller einer „absoluten Gegenwart“ beimisst. Nicht der Tod und nicht die Tradition sind sinnstiftend, sondern das Handeln im Hier und Jetzt. Metaphorisch vergleicht Heller das Leben in der Moderne als ein notwendiges Zurechtkommen und Sich-Niederlassen im „Bahnhof der Gegenwart“. (PHF 218) Die Endstationen des „Fortschrittszuges“ seien letztlich Auschwitz und Gulag gewesen. Am Bahnsteig des GegenwartsBahnhofs aber, sei man von Stadt und Tradition bereits getrennt, Rückkehr aber nicht vorgesehen; man lebe in der Bereitschaft der jederzeit möglichen Abreise, verstünde Zugstrecken und Zwischenstationen allerdings als Netz (oder rhizomatisches Geflecht) und die Reise nichtals eine schnelle Überbrückung der Gegenwart mit einer Fortschrittslokomotive in Richtung Zukunft. Das bewusste Leben in diesem Bahnhofbezeichnet Heller alseine Entscheidung. Wie lebt man nun aber richtig in dieser Welt der Kontingenz und inmitten von unbekannten, „zufälligen“ Menschen? Hellers Zugänge zu Ethik und Moral sind erneut pragmatisch. Auch wenn eine Gesamtdarstellung den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen würde, können wir diesbezüglich zumindest einige Eckpunkte festhalten. Für Heller gibt es unter modernen Bedingungen keinen geschlossen Begriff des Guten oder Gerechten. In diesem Sinne wendet sie sich auch gegen klassische Festlegungen der Philosophie, in denen zumeist die eudaimonia— die Glückseligkeit — als höchstes Ziel eines gelungenen Lebens angesehen wird. Auf dem unsicheren Grund der Moderne sei es „Freiheit“, die einem jeden anderen Wert übergeordnet ist. Zu einem glücklichen Leben gehörten aber jedenfalls Rechtschaffenheit, die Möglichkeit, die eigenen Talente zu formen, und emotionale Bindungen zu knüpfen. Ihr Schreiben über Moral und Ethik ist philosophisch, 14 ZWISCHENWELT dialogisch und beispielhaft. In ihrer Grundkonstruktion müsse eine jede moderne Ethik notwendig grundlos sein: „(...) ich kam zu der Schlussfolgerung, dass, weil unsere Welt keine Grundlage hat, auch unsere Ethik keine haben kann. Das Fundament der Ethik ist einfach der anständige Mensch.“ (GP 140) Heller scheute nicht davor zurück, ihren eigenen Vater Päl Heller als solch ein Vorbild eines anständigen Menschen zu beschreiben und zum Gegenstand eines ihrer Bücher zu machen. Sie unterschied stets zwischen Held und Vorbild. Ein jeder Mensch müsse sich selbst vorbilden, und habe die Freiheit sich selbst nach diesem Bild zu wählen. In Zeiten, die schlecht sind, brauche es aber auch Helden. Hellers Vater Päl war beides: Vorbild im Alltag und, in seinem Widerstand gegen Nationalsozialismus und Faschismus, heldenhaft in Extremsituationen. In ähnlicher Weise vorbildlich handelte aber auch Heller selbst: Sie lehnte jede Koketterie mit dem unterdrückerischen kommunistischen Regime Ungarns ab und zeigte sich stets loyal gegenüber ihrem Lehrer und Mentor George Lukäcs, sie verurteilte öffentlich den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in Prag 1968, wandte sich sehr früh gegen Antizionismus und Antisemitismus innerhalb der „neuen Linken“, sprach sich gegen Katastrophismus in ökologischen Fragen aus und verurteilte, gegen den liberalen Mainstream, den Iran als den für sie einzig real bestehenden Totalitarismus. Freiheitund Verantwortung waren für Heller gegenseitig durchdrungen: Absolute Freiheit in einer absoluten Gegenwart bedeuteten für sie auch unbedingte Verantwortung (und keinen postmodernen Nihilismus oder Anarchismus). Heller fühlte sich für das, was sie umgab und in ihrem Leben vorging verantwortlich. Dem Alltag als Standort — nicht die abstrakte Utopie als NichtOrt — gehörte dabei die Aufmerksamkeit der reifen Philosophin Heller. Ägnes Heller war nicht bereit auf eine abstrakte Zukunft zu hoffen oder auf ein Leben, das durch den Tod bestimmt ist, zu wetten. Als Moralphilosophin deklarierte sie mehrmals ihre Sympathie für den Epikureismus. Miteinem Wort Epikurs möchte ich deshalb auch schließen. Im berühmten Briefan Menoikeus schreibt Epikur in Bezug auf den Tod: „Gewöhne dich an den Gedanken, daß der Tod uns nichts angeht. Denn alles Gute und Schlimme beruht auf der Wahrnehmung. Der Tod aber ist der Verlust der Wahrnehmung. [...] Das schauerlichste Übel also, der Tod, geht uns nichts an; denn solange wir existieren, ist der Tod nicht da, und wenn der Iod da ist, existieren wir nicht mehr.“ Literatur Georg Hauptfeld, Agnes Heller: Der Wert des Zufalls. Agnes Heller über ihr Leben und ihre Zeit. Wien: Konturen 2018. (WZ) G.W. F Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III. Werke Bd. 15. Frankfurt/M.: Surhkamp 1990. Ägnes Heller: A Philosophy of History in Fragments. Oxford: Blackwell 1988. (PHF) Agnes Heller: A Theory of Modernity. Oxford: Blackwell 1999. (TM) Agnes Heller: Der Mensch der Renaissance. Darmstadt: Edition Maschke 1982. (MR) Agnes Heller: Eine kurze Geschichte meiner Philosophie. Wien: Konturen 2011. (GP) Agnes Heller: Theorie der Bedürfnisse. Hamburg: VGA 1980. (TB) Ägnes Heller: „The Absolute Stranger. Shakespeare and the Drama of Failed Assimilation.“ In: John Rundell (edt): Aesthetics and Modernity. Essays by Ägnes Heller. Plymouth: Lexington Books 2011. Ägnes Heller: Was ist komisch? Kunst, Literatur, Leben und die unsterbliche Komödie. Wien: Konturen 2018. (WK)