OCR
zeichnete die Landschaft, die Felder, das Vieh der Bauern im Stall und Kinder aus einem Heim für Behinderte. Bedrohlich war für die Flüchtlinge die Ungewissheit ihres Schicksals. Sie warteten schon Monate auf die Weiterreise, als die Anweisung kam, dass sich alle reisefertig zu machen hätten. Sie sollten zurück an die Grenze gebracht und den deutschen Behörden übergeben werden, da der Lageraufenthalt nicht mehr bezahlt wurde. Die amerikanische jüdische Hilfsorganisation, die bisher dafür aufkam, hatte aufgehört, Geld zu schicken. Lea Grundig wusste damals nicht und es war allgemein auch lange Zeit nicht bekannt, dass der Kommerzialrat Berthold Storfer aus Wien mit größtem Einsatz und Geschick unter enormen Schwierigkeiten die Flüchtlingstransporte organisierte. Er verhandelte mit Eichmann und rettete fast zehntausend Juden das Leben.” Er selbst konnte sich nicht mehr retten. Er wurde in Auschwitz ermordet. Im August 1940 war es endlich so weit. Die Flüchtlinge verließen die Patronka. Am Donaukai in Bratislava wurden sie auf vier Schiffe der Donau-Dampfschiffahrtsgesellschaft gebracht; Fahrt ging Donau abwärts bis nach Tulcea im Donaudelta in Rumänien. Von dort sollte die Fahrt mit seetauglichen Schiffen Richtung Palästina weitergehen. Die Flüchtlinge warteten am Ufer. „Eine seltsame Flotte, halbtote Schiffe, Reste von Schiffen“?, kamen an. Sie trugen die Namen „Pacifique“, „Milos“ und „Atlantik“. Lea Grundig kam auf die „Pacifique“. An Bord der drei Schiffe waren fast viertausend Flüchtlinge, darunter sechshundert freigelassene Häftlinge aus dem Konzentrationslager Dachau, auch zahlreiche alte Menschen und Kinder. „Auf diesen alten und verrotteten, für weniger als einhundert Passagiere eingerichteten Schiffen herrschten unbeschreibliche Zustände. Auf der ‚Pacifique‘ gab es nur einen Paraffinofen und kaum Trinkwasser. Die Flüchtlinge mussten in Schichten schlafen und konnten nur abwechselnd an Deck kommen, um frische Luft zu schöpfen.“? Selbst unter diesen misslichen Zuständen zeichnete Lea Grundig und gibt uns damit einen ausführlichen Bericht von dieser Reise. Da in den meisten Häfen die Aufnahme von Treibstoff verweigert wurde, mussten zuletzt die Inneneinrichtung und die hölzernen Aufbauten abgebaut und verheizt werden. Die Schiffstransporte waren alle illegal, die Besatzung kam aus den verschiedensten Ländern. Im Schwarzen Meer, in Varna, kamen noch etwa zweihundert Flüchtlinge aus Bulgarien dazu, obwohl die Schiffe schon zum Bersten voll waren. Weiter ging die Fahrt durch den Bosporus, vorbei an Konstantinopel, vorbei an den griechischen Inseln. Anfang November 1940 gelangten die Schiffe in den Hafen von Haifa. Vor den Flüchtlingen lag jetzt die weiße Stadt an den grünen Hängen des Karmel. Die Katastrophe Hier wollten sie ein neues Leben beginnen und glaubten sich endlich in Freiheit und Sicherheit. Aber sie wurden bitter enttäuscht. Sie waren jetzt alle Gefangene der Engländer. Im Hafen wurden sie nach und nach auf ein großes, schönes Schiff, die „Patria“, umquartiert. Die Engländer hatten diesen französischen Passagierdampfer requiriert. Sie wollten die Flüchtlinge nicht in das Land lassen, das damals britisches Mandatsgebiet war. Die Reise sollte zur Insel Mauritius im Indischen Ozean weitergehen, wo die Flüchtlinge interniert werden sollten. An Land forderte die 16 _ZWISCHENWELT jüdische Gemeinschaft, der Jishuw, die Aufnahme der Flüchtlinge. Bittbriefe wurden an den englischen Gouverneur geschrieben. Er lehnte die Aufnahme ab. Am Morgen des 25. November 1940 explodierte eine Sprengladung, die die zionistische Selbstschutzorganisation Hagana am Rumpf des Schiffes angebracht hatte. Damit sollte die Weiterfahrt unmöglich gemacht und die Aufnahme erzwungen werden, denn nach britischem Gesetz waren Schiffbrüchige an Land zu bringen. Die Sprengladung war allerdings viel zu stark. Das Schiff kenterte und sank binnen fünfzehn Minuten. Dabei starben zweihundertsiebenundsechzig Menschen’, die in den Kabinen Gebliebenen, die Kranken und die Säuglinge. Das war ein hoher Preis. Lager Atlit Am Abend schliefen die Überlebenden im ehemaligen britischen Militärcamp Atlit bei Haifa. Atlit war ein Lager mit Baracken, umgeben von Stacheldraht. Aufden Wachtürmen standen bewaffnete britische Soldaten mit Maschinengewehren. Etwa zweitausend Menschen waren dort interniert. Dreißig Frauen lebten in einer Holzbaracke eng beieinander, unter ihnen Lea Grundig. Die psychische Belastung war groß. Alle hatten Schwerstes erlebt, sie waren der Hölle entronnen. Dazu kam die Enge, das ungewohnte Klima, die schlechte Ernährung, Ungeziefer, und Krankheiten. Lea Grundig zeichnete die Frauen ihrer Baracke, mit denen sie in dieser Notgemeinschaft lebte. Es sind groteske Zeichnungen.° Sie zeigen Verhaltensweisen von Menschen in Extremsituationen, in ihren Bedrängnissen, und mit ihren Nöten und Hoffnungen. Die den Menschen durch den Faschismus zugefügten Demütigungen und Gewalttaten hinterließen bei den Opfern Störungen, die oft ein Leben lang anhielten. Auch viele andere Flüchtlinge und die Umgebung von Adlit stellte Lea Grundig dar. In der Lagerzeitung bildete sie das Leben im Lager ab.’ Immer wieder dachte Lea Grundig im Lager an das faschistische Deutschland, das die Welt mit Krieg überzogen hatte. Und zeichnete 1941 die Folge „Deutsche“, mit Arbeiten wie „Das deutsche Kind“, nackt, aber mit dem Stahlhelm auf dem Kopf. Die „deutschen Mütter“, die Soldaten gebären werden, „das deutsche Spielzeug“, ein Soldat. „Der deutsche Soldat“, der mordend über die Länder zieht, den Tod im Gepäck, und ein Blatt „Kanonen statt Butter“, nach einem Ausspruch Görings; weiter das Blatt „Aufrüstung“ und als Symbol das marschierende Hakenkreuz über den am Boden liegenden Menschen. Insgesamt entstanden 17 Blätter in dieser Folge „Deutsche“. Jahre später, als Lea Grundig die so anklagenden Arbeiten nach Deutschland mitgebracht hatte, nannte sie diese Folge von Zeichnungen in den 1950er Jahren „Antifaschistische Fibel“. Sie wollte nicht alle Deutschen anklagen. Für Lea Grundig sollte der Aufenthalt in Atlit noch fast ein Jahr dauern. Sie wurde im Oktober 1941 zu ihrer Schwester nach Haifa entlassen. Die Flucht war zu Ende. Sie hatte fast zwei Jahre gedauert. In Freiheit Nach sehr langer Zeit war sie endlich wieder in Freiheit. Diese nutzend, versuchte sie die Öffentlichkeit mit ihren Bildern zu