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der Interviewten, in denen ihre Brüche und Aufbrüche deutlich wurden. Die Erschütterung von Lili Kolisch über die aus der nazistischen Verfolgung wiederkehrenden Ängste ihrer alten kranken Mutter erklärte mir mehr als vieles andere. Wie würde es mich freuen, noch einmal mit Schani Margulies darüber reden zu können, wie er es schaffte, aus seiner extrem belasteten Kindheit zu einem aktiven, witzigen, lebendigen und freundlichen Menschen zu werden. Der Band endet mit Nachrufen auf ihn und Robert Lettner. Die „Nachkriegsgeneration“ insgesamt steuert langsam aber sicher auf das hohe Alter zu, sollte sie nicht stärker die Sicherung ihres Erbes, auch jenes ihrer Vorfahren, ins Auge fassen? Zu den besprochenen Büchern kam ich durch persönliche Beziehungen entweder zu den AutorInnen oder den bearbeiteten Personen oder Themen, und ich dachte nicht, dass sie sich zu einer Sammelrezension vereinen lassen. Aber man sollte sich nicht von den Namen der Diszipline unterkriegen lassen, wie Widerstandsund Exilforschung. Was so einheitlich klingt, ist so unglaublich vielfältig und nach wie vor wirkmächtig und produktiv, dass es eine NEUE TEXTE Freude ist. Es sollte bewusst bleiben, wenn sich neue Disziplinen bilden, steht man erst am Anfang der Forschung. Da wird erst ein Feld aufgeschlossen, das erst nach und nach seine „Reichtümer“ frei gibt. Das korrespondiert selbstverständlich nicht mit einer schnelllebigen Zeit, in der ein Hype nach dem anderen über den Dorfanger getrieben wird. Diese Erschöpfungsstrategie, die permanent nach „Neuem“ hechelt, legen wir Ältere beruhigt beiseite und schauen ruhig tiefer und nach wie vor neugierig ins faszinierende und vielfältige Komplexe. Bernhard Kuschey, Historiker, geb. 1955 in Klagenfurt, seit vielen Jahren Mitarbeiter von MdZ und ZW, veröffentlichte 2003 „Die Ausnahme des Überlebens. Ernst und Hilde Federn. Eine biographische Studie und eine Analyse der Binnenstrukturen eines Konzentrationslagers’, 2008 „Die Wodaks. Exil und Rückkehr“. Im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft gab er 2005 aus Anlass des 90. Geburtstages von Ernst Federn den Sammelband „Die Psychoanalyse kritisch nützen und sozial anwenden“ heraus. Georg Tidl Die Hande des Vaters Den Anzug will er keinesfalls anziehen, auch wenn der Vater ihm schon vor einer Woche die Bedeutung des Tages mehrmals und eindringlich erklärt hat. Alles wird er anziehen, nur nicht diesen Anzug. Den alten Sonntagsanzug des Großvaters. Der hat im Krieg abgenommen, passt in den Anzug zweimal rein. Auch ist er schon drei Jahre in Rente und Anzüge braucht er schon gar nicht mehr. Zwei hat sich der Großvater behalten, einen schwarzen für die Begräbnisse und einen hellen für die guten Anlässe des Lebens. Die übrigen verschenkte er an den Rest der Familie. So kam Peter zu einem Anzug, dem für ihn viel zu großen grauen zweiten Wintersonntagsanzug des Großvaters. Ein Paket ist gekommen, braunes Packpapier, schon oftmals verwendet, erkennbar an den vielen bereits durchgestrichenen AN plus Adresse und den ebenfalls durchgestrichenen Absendern, robust mit einem Hanfstrick verschnürt. Peter wird mit Hilfe eines Haselnusssteckens einen Bogen daraus machen. Und dann liegt er da ausgebreitet auf dem Küchentisch: der Anzug des Großvaters. Die erste Anprobe macht Spaß. Die Hosen viel zu lang und zu weit, die Ärmel reichen bis zum Boden. Mutter kann vor Lachen kaum an sich halten. Der Anzug wird feierlich wieder eingepackt in das viel gereiste braune Packpapier. „Der Anzug muss zum Schneider!“ Vor dem Schneider hat Peter Angst. „Dem Schneider hat eine Granate das halbe Gesicht weggerissen und er hat da ein Glasauge. Schau ihm nicht ins Gesicht. Schau ihm auf die Hände. Er hat so schöne zarte Hände, so lange Finger, und er kann so schnell mit der Hand nähen mit so schönen Bewegungen. Schau ihm auf die Hände.“ Peter grüßt artig und schaut auf die Hände. Wie sie Maß nehmen: die Beine. Der Schritt. Die Armlänge. Er schaut immer auf die Hände. Seine Mutter hat recht. Das Maßband läuft wie von Geisterhand gezogen und geschoben durch diese Hände, wie die Blindschleichen in Großvaters Garten. Wie geschickt er mit den Stecknadeln umgeht. Und doch kann Peter nicht widerstehen. Nur einmal schaut er kurz auf, sieht kein Gesicht, nur Löcher in einem dunklen fleischfarbenen Etwas. Ein Auge. Kein Mund. Keine Nase. Kein Kinn. Er schaut zu lange. Der Schneider wendet sich ab. Alles scheint still zu stehen - selbst das Pendel der Wanduhr - für einen langen Augenblick. Peter muss nicht mit zur Anprobe. Die Mutter holt den fertigen Anzug ab. Peter findet immer wieder Ausreden, um den Anzug nicht anziehen zu müssen: Bei Schulanfang ist Herbst, also kurze Hose, bei Schulende Frühling, also auch kurze Hose und auch sonst muss der wertvolle Anzug geschont werden. Heute kommt er nicht mehr darum herum. Heute muss es sein, heute, Samstag Vormittag. Zuerst das Hemd. Vater bindet ihm eine seiner eigenen Krawatten, dann die Socken und jetzt... So schnell wie Peter drinnen ist, ist er wieder draußen. Es ist nicht der Großvater, nicht der Schneider, nicht der Schnitt. Die Hose kratzt elendiglich. Der Vater sagt nichts. Aber sein Gesicht sagt alles. Peter zieht im Stehen die Hose an. Ganz vorsichtig, dass der Stoff nur ja nicht an seine Haut kommt. Die Mutter erkennt seine Qual. Damit er sich nicht auch noch bücken muss, schnürt sie ihm, was sie sonst nie tut, die Schuhe. Jetzt noch der Mantel. Wie auf Stelzen bewegt sich Peter Stufe für Stufe auf der Stiege nach unten. Er ist schon zwei Stockwerke voraus, als oben der Vater die Tür ins Schloss fallen lässt. Die Navratil ist Blockwart gewesen. Das Kriegsende hat sie wieder zur einfachen Hausmeisterin degradiert. Die goldenen Jahre ihrer unumschränkten Herrschaft über acht Häuser waren vorbei. Aber die Navratils haben die Hoffnung nicht verloren. Herr Oberluftschutzwart Navratil, so ließ er sich chrerbietig während der Kriegsjahre ansprechen, zieht nächtens noch regelmäßig mit dem Kalkkübel durch die Gassen seines ehemaligen Aufsichtsbezirkes November 2019 25