OCR
und streicht mit einem dicken Pinsel die Pfeile nach, die die Wege zu den nächsten Luftschutzkellern weisen sollen, und auch die Buchstaben LUFTSCHUT Z über den Kellereingängen; dabei murmelt er halblaut gebetsmühlenartig „Der Führer lebt, der Führer lebt“ vor sich hin. Früher ging er in voller Montur, beaufsichtigte die Arbeit nur. Jetzt schleicht er selbst heimlich von Kellerloch zu Kellerloch. Als Vater und Sohn direkt an der ebenerdigen Hausmeisterwohnung vorbeigehen, zischt die Hausmeisterin Navratil ihnen nach. „Scheissrussengsindel! Schleichts eich!“ Auf der Straße, es ist schon Ende November und bereits ziemlich kalt, lässt das Kratzen nach. Bevor sie die erste Gasse überqueren, drängt sich Peters Hand in die des Vaters. Jetzt ruht sie in der Manteltasche, fühlt sich wie der Mantel ledrig an, nicht so zart wie die der Mutter, aber sie verströmt Wärme. Eine selbstverständliche, in deren Genuss Peter selten kommt. Der Vater geht früh zur Arbeit und kommt spät heim, meist übermüdet und abgekämpft. Bis zur ehemaligen Zonengrenze kennt Peter den Weg. Er geht ihn öfters mit der Mutter. Er kennt auch alle Geschäfte und einige Verkäufer und Verkäuferinnen. Vor allem die Verkäuferinnen zeigen sich ganz entzückt von dem hübschen, wohl erzogenen jungen Mann. Aber heute geht er neben dem Vater. Der mit seinem aufrechten Gang und dem weit ausholenden Schritt einen achtungsgebietenden Eindruck macht. Unterstrichen von dem schweren Ledermantel. Peter kann den Mantel allein nicht aufheben, so schwer ist er. Bestes Schweinsleder, hat der Vater gesagt, als er ihn das erste Mal nach Hause brachte. Eigentlich trugen die höheren Nazi-Funktionäre diese Mäntel: die grauen die Eisenbahner, die grünen irgendwelche Sicherheitsbeamte und die braunen die Gestapo. Ein breiter Ledergürtel mit zwei Stahlringen hielt diese Ungetiime aus Schweinshaut zusammen. Das waren keine richtigen Uniformen. Aber im Krieg erkannte man an den Mänteln die Menschen. Nach dem Krieg — auch Mäntel waren Mangelware - blieben sie trotz ihrer Vergangenheit allgemein begehrt. Das erste Geschäft, an dem sie vorbeikommen: das große Lebensmittelgeschäft Hauk mit den riesigen Leitern, die bis an die Decke reichen. Als Peter noch klein war, dachte er, die Himmelsleitern in den Märchen seien wie die langen Leitern vom Hauk. Inzwischen wecken mehr die großen Kartons und Schachteln in den Regalen ganz oben mit den ihm unerklärlichen Aufschriften und Bildern sein Interesse. Der Hauk hat sein Personal im Griff, alle uniformiert mit gleichem Mascherl, gleichem Arbeitsmantel, gleichen Sprüchen, fliegen sie die Leitern hinauf und hinunter, nach hinten und runter zum Sauerkraut. Hauks persönliches Markenzeichen: weißes Hemd, schwarzes Mascherl, scharf gespitzte Bleistifte in der Brusttasche des dunkelgrauen auf Falten gebügelten Arbeitsmantels und eine Hosentasche voll Stollwerk für die Kinder seiner Kunden. Peters Mutter sagte einmal zur Nachbarin: »--. den hellen Fleck am Revers rund um das Abzeichen unserer jungen Republik, da hat er immer das Parteiabzeichen getragen, ein ganz großes Parteiabzeichen, das kleine Neue deckt den Fleck nicht ab.“ „Der Fleck bleibt ihm....wenigstens was....!“ Frau Pipal triumphierte über ihre boshafte Anmerkung. Heute gibt es kein Stollwerk. Vater geht nicht einkaufen, sie haben eine andere, wichtigere Aufgabe. Am Eck, beim Goldenen Fisch, bleiben sie trotzdem stehen. In der Auslage ziehen die Karpfen behäbig ihre Kreise und aus einem Eck des Aquariums 26 _ ZWISCHENWELT sprudeln lustig kleine Luftblasen. Der Vater drängt seinen Sohn nicht. Das Beobachten der Fische hält er offenbar für pädagogisch wertvoll. Anders beim Fleischhauer Wurst, da fasst ihn der Vater mit der Linken sanft um die Hüfte und trägt seinen Sohn mehr weg, als dass er ihn weiterschiebt — ihrem gemeinsamen Ziel zu. Peter geht mit dem Wurst-Sohn in dieselbe Klasse. Ein dickes gutmiitiges Kind, das jeden Tag in die Schule zwei Kaisersemmeln mit je einem richtig dicken Rad] Extrawurst mitbringt und unter dem Hallo der Kameraden an die anderen verschenkt. Oft mischt sich die Lehrerin ein und versucht den Angstlichen und Schwächsten, denen, die nur bei Schnee und Glatteis in Schuhen in die Schule kommen, sonst immer barfuß, vom Wurstsegen einen Happen zukommen zu lassen. Für den Wurst-Buben gibt es jederzeit Nachschub. Vater Wurst ist genauso großzügig. Kein Kind geht aus seinem Geschäft ohne ein dickes Radl Extrawurst. Und dazu lacht der Vater Wurst dauernd übers ganze Gesicht. Wenn er mit seinem Beil fröhlich die Rindsknochen spaltet und damit die begehrten Markknochen zum Kochen verkleinert, da spritzen die kleinen Knochenteile vom Hackblock, dass die Hausfrauen erschreckt zurückweichen. Neben der Tür aber lauert Frau Wurst auf erhöhtem Sitz, ein Koloss von Fleisch auf einem Thron, und jeder der seinen Einkauf eingepackt hat, muss an ihr vorbei. Frau Wurst lacht nie, obwohl sie neben sich immer einen weißen Wirtshausteller stehen hat, der nie leer wird: essfertige Happen von Sulz, gepökelte Zunge, Blut- und Extrawurst sowieso, sogar Salami soll man gesehen haben. Auf einem kleinen Pult aus Porzellan schreibt sie ächzend und stöhnend mit Tintenblei auf langlichen Zetteln, wie sie auch Kellner benützen, bedächtig nachrechnend Position um Position. Es bildet sich vor ihr immer eine kleine Schlange, aber Drängeln hilft nicht, da wird Frau Wurst böse und fängt an zu schreien. Es ist schon vorgekommen, dass sie einer ungeduldigen Kundin oder einer anderen, die eine Zwischensumme anzweifelt, die bereits eingepackte Ware wieder wegnimmt und zurück über das Verkaufspult auf den Boden schmeißt. „Gens weg, schleichens ihna, ihnen verkauf i nix!“ Da hilft auch kein Widerspruch ihres Mannes — im Gegenteil. „Ah Ruah is, sonst sperr i glei zua!“ Die Familie ist so reich, ganze Häuserzeilen sollen sie im Bezirk besitzen. Zu verkaufen brauchte Frau Wurst wirklich nichts — erst recht nicht nach diesem Krieg. Die Milchfrau ist genau das Gegenteil. Ganz mager ist sie und jammert immer iiber das viele Stehen auf dem kalten Steinboden in dem eisigen Geschäft. Sonntag früh, wenn Peter mit der Milchkanne kommt, fährt sie mit dem großen Schöpfer schwungvoll in die meist noch schäumende Milch. Ohne, dass ein einziger Tropfen verlorengeht, landet die Milch in Peters Kanne. Zum Schluss gibts noch einen kleinen Batzen Rahm auf die Hand: „Weilst immer so brav bist und so schön grüßt.“ Am Eck vorne ist noch die Konditorei. Nach der Konditorei kommt die große Straße und dann der große Platz. Die darf Peter nicht alleine überqueren. Hier hört seine Welt auf. So lange er sich erinnern kann, war hier die Grenze: mit Soldaten, Gewehren, Stacheldraht. Seit ein paar Monaten ist die Grenze weg. Peter betritt an der Hand des Vaters zum ersten Mal eine andere Welt. Vorher müssen sie aber noch an dem Tschocherl mit den vielen bunten Schnapsflaschen in der Auslage vorbei. Nach kaltem abgestandenem Rauch riecht es hier und gleichzeitig undefinierbar nach Süßem und Saurem. Peters Vater muss täglich morgens, wenn er zur Arbeit geht, hier vorbei. So früh kann er gar nicht sein, als dass sich die ersten Trankler nicht schon eingefunden